Facetten der Weltuntergänge – Apokalyptische Variationen von Antanas Škėma
Übersetzt aus dem Littauischen von Claudia Sinnig
Nick Lüthi
Die Apokalypsen des Antanas Škėma sind leise. Bimmelnde Glocken, so leise, dass man sie fast nicht hört. Sobald man sie hört, bleibt man stehen und kann nicht anders, als ihnen weiter zu lauschen, weil sie trotz aller Grausamkeit, so wunderschön und bedacht vor sich hin spielen. So, als würde ihnen gleichzeitig die ganze Welt und kein einziger Mensch zuhören. So, als ob die Apokalypse bereits längst unerbittlich fortgeschritten ist und gleichzeitig noch alles gerettet werden kann.
Nicht alle Apokalypsen von Škėma beginnen so sanft, die erste Erzählung des Bandes trägt die Angst bereits im Titel. Erst später wird mir aber klar, wie sehr diese erste Erzählung aus dem gesamten Band heraussticht. Es ist die erste, die Škėma veröffentlicht hat, 1929 ist sie entstanden. Sie ist nicht schlecht, aber man merkt, sobald man um das spätere Werk des Autors weiss, dass er es da noch nicht zur Vollendung seiner sprachlichen und erzählerischen Mittel gebracht hatte. 260 Seiten später macht er es besser. Er beginnt sanft:
Antanas Škėma: Apokalyptische Variationen, S. 269.
In der S Greenwood Avenue beginnen die Kirchenglocken zu läuten, eine sakrale Melodie.
So beginnt die Erzählung “Apokalyptische Variationen”, die dem Band auch den Namen gab. Behutsam hebt Antanas Škėma (1910-1961) da in seine Variationen hinein, in der Erzählung läuten die Kirchenglocken den Tag ein, es folgt die Nacht, der ganz normale Chicagoer Alltag. Und am nächsten Tag das gleiche Spiel, die gleichen alltäglichen Vorkommnisse, wie die vorgreifende Erzählstimme bereits weiss, doch momentan ist alles noch ruhig:
Antanas Škėma: Apokalyptische Variationen, S. 270.
Jetzt ist Abend, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite fliegt eine weiße Taube vorüber.
Ruhig bleiben wird es nicht. Die Flugzeuge fliegen, die Fenster stehen offen, die Menschen werden zu Engeln. Alles heilig, alles im Stillen. Es sind die kleinen, grossen und mittelgrossen Weltuntergänge, die das prosaische Werk von Antanas Škėma entfesselt vorantreiben. Als grosser Meister der Atmosphäre, umgarnt er seine späteren Erzählungen, es ist fast wichtiger, wie die Bäume aussehen, wie sich der Himmel präsentiert, als das, was den Menschen in den Geschichten widerfährt. Es ist erstaunlich von aussen zu beobachten, wie sich diese schriftstellerische Entwicklung vollzieht. Der anfänglich noch wichtige Plot nimmt mit jeder Erzählung ab und die Atmosphäre rückt in den Vordergrund. Es zählen die Eindrücke, die Augenblicke, die unwiederbringlich verlorenen Momente. Die Atmosphäre ist oftmals so dicht, dass jeder darauf aufprallende Komet sofort verglühen müsste.
Es sind die Eindrücke eines Menschen, der versucht, das Erlebte zu kategorisieren, in eine Form zu bringen, die Kleider so zu falten, damit sie weggeräumt werden können. Vielleicht könnte man mal wieder einen langweiligen Allgemeinplatz bedienen und sagen, dass es in Literatur gegossene Therapie ist. Škėma wird 1910 in eine litauische Familie geboren, die stets auf der Flucht und im Exil ist. Zuerst fliehen sie vor dem Ersten Weltkrieg, dann vor der Russischen Revolution, erst danach wird es etwas ruhiger, die Familie kehrt nach Litauen zurück. Antanas studiert Medizin und Jura, wird Schauspieler. 1944 flieht er nach Deutschland, lebt dort in Lagern, 1947 dann die Übersiedelung in die USA. Dort arbeitet er als Liftboy und Fabrikarbeiter, 1961 stirbt er bei einem Autounfall. Geschrieben hat er die ganze Zeit.
Wenn man um diese Lebensgeschichte weiss, dann weiss man auch, woher die existenzialistische Dringlichkeit seiner Texte rührt, die zu diesem diversen, verzweigten, abgründigen Werk geführt hat. Und doch sind es nicht nur die Themen und Motive, die diese Geschichten auszeichnen. Es ist auch die bereits angesprochene Atmosphäre und der ihr zugrundeliegende Unwillen zu fassbarer Form. Diese ist in jeder Erzählung wieder so anders, so neu und unverbraucht, man weiss nicht recht, wo vorne, wo hinten ist. Man stürzt in dieses wundersame Prosaabenteuer also zwangsläufig unvorbereitet hinein.
Dass man überhaupt merkt, wie sehr sich das Erzählwerk von Škėma entwickelt hat, ist grosses Verdienst der Übersetzerin Claudia Sinnig, die so genau gearbeitet hat, dass man die stilistischen Veränderungen spürt und auch in der deutschen Version nachvollziehen kann. Die schlichten Sätze zum Anfang reihen sich an die komplexe Atmosphäre am Schluss und trotzdem wirkt alles wie aus einem Guss. Sinnig ist es gelungen, die stellenweise komplexe Sprache mit einer einfacheren Sprache zu mischen und so eine wunderbare Gesamtwirkung zu erzielen.
Es ist nicht morbide Faszination, die die Begeisterung für die Variationen antreibt, es ist der unerbittliche Blick auf die kleinen und grossen Untergänge der Welt, der eben auch durch eine Kirchenglocke ausgelöst werden kann. Das Antanas Škėma nicht seit Anbeginn ein ausgeformter Schriftsteller war, das zeigt dieser Band ebenso, wie die ungeheure Meisterschaft, die er in dieser Tätigkeit noch finden würde. Ein ungeheuerliches Prosawerk wartet in diesem Band auf seine Entdeckung.
Antanas Škėma: Apokalyptische Variationen.
Aus dem Littauischen von Claudia Sinnig.
Mit einem Nachwort von Claudia Sinnig.
Originalveröffentlichung 1929–1960.
424 Seiten.
Guggolz.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (grau) · Lesebändchen (lila) · fadengeheftet
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Der noch junge (2014) Guggolz Verlag stellt nur vier Bücher pro Jahr her. Diese Bücher sind allesamt Übersetzungen, entweder komplett neu übersetzt oder als Neuausgabe. Ganz im Sinne von Trüffelsuchenden werden hier vergessene Werke wieder sichtbar gemacht. Immer auch entsprechend kommentiert und um Nachworte versehen. Der Verlag erhielt 2017 den Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung.
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