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Leta Semadeni: Ich bin doch auch ein Tier
4. März 2023Zwei Themenwelten sind zentral für die Lyrik Leta Semadenis: Tiere und die Nacht. Ihre Gedichte, und damit die darin herumgeisternden Lebewesen, erheben sich erst, sobald die Dunkelheit hereinbricht. Die Uhus, Füchse, Wölfe erwachen und werden zu Hauptfiguren. Nebst diesen beiden Themenkomplexen begleitet die Gedichte eine konstante Zweisprachigkeit. Semadenis Gedichte entstehen mal in der einen (Deutsch), mal in der anderen (Rumantsch) Sprache zuerst und werden danach von der Autorin in die andere Sprache überführt. Diese konstante Zweisprachigkeit führt nicht zu direkten Übersetzungen, so hat die rätoromanische Version etwa Reime, während in der deutschen dieselben Reime fehlen. Die artverwandten Texte folgen zwar der gleichen Poetologie, ihre Wirkweise erhalten sie aber immer durch Mittel der jeweiligen Sprache. Das schmale, herausragende lyrische Werk von Leta Semadeni ist deshalb gar nicht anders als zweisprachig zu lesen, auch, wenn man nur eine der beiden Sprachen spricht.
Webseite zum Buch192 Seiten, Atlantis (Kampa).
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Anja Wicki: In Ordnung
1. März 2023Evas Leben ist keineswegs so in Ordnung, wie es der Titel von Anja Wickis Debüt vermuten lässt. Es ist geordnet, ja, aber nicht in Ordnung. Bestimmt von einer nicht genauer benannten psychischen Krankheit, läuft Evas Tag nach einem exakt einzuhaltenden Schema ab. Durch den rigiden Tagesablauf bleibt aber wenig Platz für Spontaneität, Dating, Freunde, Arbeit, auch, weil Eva mit ihrem Verhalten überall aneckt. Anja Wickis Graphic Novel erzählt von einer Figur, die mit dem Alltag hadert und deren Handlungsmuster für Aussenstehende nur schwer nachzuvollziehen sind. Sie erzählt aber auch von den Schwierigkeiten und dem fehlenden Verständnis, dem neurodiverse Menschen tagtäglich begegnen. Wicki macht die kleinen, alltäglichen Herausforderungen greifbar und nutzt die Mittel des Comics, um die Verzweiflung darzustellen, wenn jemand nicht «normal» ist, also in seinem Verhalten nicht immer den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Der Band hört da aber nicht auf: Als es gar nicht mehr geht, bekommt Eva einen (mehr oder weniger hilfreichen) Engel zur Hand.
Webseite zum Buch208 Seiten, Edition Moderne.
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Andreas Gefe, Julian Voloj: In NY
27. Februar 2023Ganz in Rot- und Blautönen gehalten, erzählt diese von Andreas Gefe gezeichnete und von Julian Voloj geschriebene Graphic Novel vom abrupten Ende einer Liebesbeziehung. Der namenlose Protagonist wird von seiner kürzlich bei einem Unfall verstorbenen Freundin in Tagträumen begleitet. Zusammen durchlaufen sie die Stationen ihrer Historie und damit auch die Stadt, in der sich ihre grosse Liebe abgespielt hat, New York. Die von Gefe und Voloj dargestellte Geschichte ist weder neu noch komplex, trotzdem wirkt «In NY» frisch und mitreissend. Voloj erzählt mit wenig, dafür umso pointierterem Dialog, Gefe zeichnet so ausdrucksstark, dass man den Figuren jede Gefühlsregung aus den Gesichtern herauszulesen glaubt. Der Band überzeugt durch eine – ohne Kitsch zu erzeugen – glaubhafte emotionale Tiefe, die im Medium Comic selten so vollendet wie hier anzutreffen ist. Gepaart wird diese besondere Erzählung mit einem herausragend gemachten und gestalteten Buch, das mit seinem Grossformat auch als physisches Gut Eindruck erzeugt.
Webseite zum Buch90 Seiten, Edition Moderne.
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Anja Schmitter: Leoparda
26. Februar 2023Genauso wie das Leben von Hauptfigur Kleo peu à peu von ihrem alter Ego Leoparda übernommen wird, genauso verschliesst sich die Realität in diesem Roman zunehmend vor der Leser:in. Schlussendlich bleibt unklar, was tatsächlich geschieht und was von Kleo erträumt wird. Diese Gratwanderung passt zur Erzählhaltung. Durch einen Sonnenbrand ausgelöst, verengt und vergrössert sich Kleos Welt gleichzeitig: Die eigene Wohnung wird in einem viel zu heissen Sommer zu Leopardas Territorium und bald kaum mehr verlassen. Durch diesen Fokus expandiert die Wohnung aber gleichzeitig, gleichermassen in sich selbst. Anja Schmitter erzählt diese Geschichte mit einem feinen Gespür für Dramatik, obwohl nicht viel passiert, fühlt sich der Roman rasant an und liest sich entsprechend schnell weg. Der Roman erschöpft sich aber nicht in seiner zunehmend fantastischen Ausrichtung, sondern platziert feine Zwischentöne, die aus der Hauptfigur eine glaubhafte Mittzwanzigerin machen, die mit ihrem Leben nicht klarkommt.
Webseite zum Buch232 Seiten, Edition Moderne.
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Flavius Ardelean: Der Heilige zwischen den Welten─ Übers. Eva Ruth Wemme
24. Februar 2022Im zweiten Band seiner Heiligen-Trilogie driftet Flavius Ardelean endgültig in Finsternis ab. Die Skelette klappern nicht mehr, die Toten legen sich zu ihren Frauen, verschmelzen Leben und Tod und übrig bleibt: das in allen Dimensionen sich ausbreitende Böse. Die wiederum herausragende Übersetzung von Eva Ruth Wemme folgt diesen Auswüchsen der Dunkelheit in jede noch so kleinste Ecke. Waren im ersten Band noch Märchenanleihen auszumachen, geht hier die Richtung klar gen Dark Fantasy. Ardelean erzählt verworren, komplex und metaphernreich, was die Lektüre des fast 500 Seiten fassenden Bandes nicht ganz einfach macht. Anders als der erste Band, ist “Der Heilige zwischen den Welten” ein klassischer Mittelteil, der ohne Kenntnis des Vorgängers kaum Freude macht. So bleibt ein komplexes Werk, dessen Wert dann nur im Kontext des dritten Bandes bemessen werden kann. Die Spatzen zwitschern von den Dächern, dass es den noch in diesem Jahr geben könnte. Man darf gespannt sein.
Webseite zum Buch496 Seiten, homunculus.
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Sarah Elena Müller: Culturestress
22. Februar 2022Die gesammelten Mundart-Kolumnen von Sarah Elena Müller kennen keinen sanften Einstieg. Bereits im ersten Text findet man sich in einem Managementseminar und muss sich als Kreativhund ziemlich viel Schwachsinn anhören. Natürlich nur, um den Markt antworten zu lassen. In der Folge begegnet man der ältesten Kartoffel des Universums (“Ultima Härdöpfel”), horcht in den eigenen Körper hinein und muss mitanschauen, wie der Samichlaus geswattet wird. Müller versteht es in ihren kurzen, dreiseitigen Szenen ausgezeichnet, die Welt, so wie sie sich gibt, in kurze, dramatische – und immer wieder überraschende – Abläufe zu verpacken. Das ist lustig, tragisch, böse, aber immer nahe am Zeitgeschehen. Dadurch, dass die Texte bewusst zugespitzt sind – es sind ja Kolumnen – ist das in Buchform manchmal etwas viel und ich hätte mir manchmal eine kleine Prise mehr Subtilität gewünscht. Der Begriff Szenen zeigt aber auch schon an, wo diese Texte am besten funktionieren werden: auf der Bühne. Man kann sich folglich nur wünschen, die Autorin bald auf einer Bühne mit diesen Texten anzutreffen. Werden kann dies nur eines: Endzeitig.
Webseite zum Buch136 Seiten, Der gesunde Menschenversand.
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Dilek Güngör: Vater und Ich
20. Februar 2022Die Beziehung zwischen Ipek und ihrem Vater, war einst innig, mittlerweile wissen beide nicht mehr recht, wie sie miteinander umgehen sollen. Dilek Güngör erzählt feinfühlig und arbeitet sich sehr präzise an die Sollbruchstellen dieser Beziehung vor. Das hat zu Teilen mit der Migration des Vaters aus der Türkei zu tun, aber auch damit, dass Ipek eine Frau ist und als Journalistin mehr schlecht als recht über die Runden kommt. Güngör gelingt es, in dieser einen Beziehung den ganzen Kosmos dieser beiden Menschen aufzuspannen. Unbeholfen stehen sich die beiden gegenüber und wissen nicht einmal, wie sie zusammen kochen sollen. Erzählt ist dies in einer direkten, gerade dadurch poetischen Sprache: “Wenn wir weiter schweigen, werden wir für immer wie Fremde um den Herd in der Küche herumstehen”. Wie in dieser Beziehung bleibt auch im Roman vieles unausgesprochen, gerade dadurch ist er so besonders schön.
Webseite zum Buch104 Seiten, Verbrecher.
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Alexander Nitzberg (Hg.): Revolution der Sterne. Russische Dichtung der Gegenwart─ Übers. Alexander Nitzberg
19. Februar 2022In dieser von Alexander Nitzberg herausgegebenen Werkschau zeitgenössischer russischer Lyrik wird absurdisiert, übertrieben und realistisch erzählt. 30 russische Dichter*innen werden mit einem kurzen Porträt und jeweils 5 Gedichten zweisprachig vorgestellt. Viele von ihnen hierzulande völlig unbekannt. Besonders schön an diesem Band sind aber nicht nur die Entdeckungen aus dieser hier fast unbekannten Lyriktradition, sondern auch die Übertragungen von Nitzberg. Dieser hat versucht, der Form der Gedichte auch im Deutschen gerecht zu werden. Wunderbar toben sich die Reime etwa bei Jewgenija Ritz: «In wirklich jede Wunde legst du den Finger/ und ziehst heraus irgendwelche Äste,/ Wattebauschreste,/wie Bast durchnäßte/abgelutschte Lollis samt Anhang;/und dieser Tausch erscheint unverhältnismäßig/nur am Anfang.» Einziger Wermutstropfen ist das Verhältnis der Geschlechter mit 22:8, gerade weil im Vorwort noch betont wird, wie die russische Lyrik bereits früh auch stark von Frauen geprägt wurde.
Webseite zum Buch334 Seiten, Klever.
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Mikael Vogel: Dodos auf der Flucht
2. November 2021«Dünne Schalen, die fragilsten aller Vogeleier». In seinem Requiem für ein verlorenes Bestiarium porträtiert Mikael Vogel ausgestorbene Tierarten. Oder vielleicht ist das falsch ausgedrückt, viel eher spürt er ihrem menschlich induzierten Verschwinden nach. Vogel macht das unprätentiös und sehr gezielt. Ohne moralischen Zeigefinger aber mit der inneren Unruhe von einem, der diesem Verschwinden tatenlos zusehen muss. Der Band beeindruckt in seiner Dicke und mit der Recherchierwut, die der Autor seinen Gedichten zugrundegelegt hat und die sich auch im ausführlichen Nachwort dokumentiert findet. Gerade der dokumentarische Aspekt ist ein gekonnter Zugang zu Vogels Themenwelt, die tieftraurige Realität trifft so auf eine sachliche poetische Aufarbeitung, die bereits Sekunden nach dem ersten Erscheinen des Bandes schon wieder überholt wurde: «Seit sechs Jahren pflege ich Umgang mit Gespenstern.»
Webseite zum Buch272 Seiten, Verlagshaus Berlin.
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Simone Weinmann: Die Erinnerung an unbekannte Städte
15. September 2021In ihrem Debüt erzählt Simone Weinmann von einer durch eine Umweltkatastrophe gezeichneten Welt. Regierungen und Infrastrukturen sind zerfallen, das Buch des Staubs hat sich in den Köpfen der Menschen eingenistet und die Zentrale bestimmt, wer welchen Beruf ausübt oder wer noch Medikamente bekommt. In der Enge dieser Welt haben die beiden Jugendlichen Vanessa und Nathanael keinen Platz, beide verlassen das Dorf in der Hoffnung, im Süden einen Platz zu finden. Der pflichtbewusste Dorflehrer macht sich in der Folge auf die Suche nach den beiden. In wechselnder Perspektive erzählt der Roman nun von dieser Reise, auf der wenig passiert. Die Kargheit der Landschaft überträgt sich auf die Sprache und die Erzählung, erstere ist spröde, zweitere wartet mit wenig Überraschungen auf. Die heraufbeschworene Zukunftsvision hat ihre Momente und würde als Jugendroman einigermassen funktionieren. Vermarktet als Roman für ein erwachsenes Publikum, mangelt es dem Roman jedoch sowohl an sprachlicher wie auch an erzählerischer Finesse.
Webseite zum Buch272 Seiten, Kunstmann.
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KLiteratur 6
24. August 2021«Gegensätze liegen mir, doch ein Rätsel bin ich nicht». Die erste Zeile aus einem Gedicht von Silva Hanekamp könnte man geradezu programmatisch lesen für die Kölner Literaturzeitschrift KLiteratur, deren sechste Ausgabe kürzlich erschienen ist. Gestaltet in allerbester Hochglanzmanier, illustriert durch gleich vier Illustrator*innen, findet sich im Inneren einerseits ein Dossier zum Thema Debattenkultur, andererseits eine bunte Sammlung Literatur: Pierre Stoltenfeld lässt einen Tigeradler mit einem Schweinehund kämpfen, Lütfiye Güzel streicht alles durch, was es nicht braucht und Martina Lenz lässt die Sünder zur Beichte antanzen. Sönke Niebuhr versucht sich literarisch am Vater («er hat im Grunde keine Haare»), Lis Schröder fasst die nature vs. nurture Debatte in genau 50 Worte und Benjamin Wimmer lässt Herrn Meier Regenprotokoll führen. Ein Rätsel mag die KLiteratur #6 nicht sein, eine anregende Sammlung voller literarisch-illustratorischer Gegensatzpaare aber allemal. «An Regeln halte ich mich gerne nicht».
Webseite zum Buch90 Seiten, KLiteratur.
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Patricia Malcher: Lieb Kind
13. August 2021Die Kreise in Patricia Malchers Debüt «Lieb Kind» sind eng. Aufgespannt zwischen einer Mutter-Sohn-Beziehung wird so eine Familienkonstellation aufgerufen, bei der es unter der Oberfläche brodelt. Die Mutter von Jens liegt im Sterben und trotz neuer Liebe und erneutem Kontakt zu seinem Kind, tut er sich schwer, sich von der Vergangenheit und seiner Mutter zu lösen. Malcher erzählt die Geschichte rasant und treibt den Plot sorgfältig, aber zielstrebig voran. Sprachlich ist das manchmal, gerade zu Beginn, etwas zu viel des Guten und wirkt unnötig überladen. Die Figurenzeichnung ist aber sehr vielschichtig und überzeugt mit komplexen Charakteren. Einzig Protagonist Jens bleibt etwas blass, weil sein Handeln stets nur von aussen gesteuert wird. Im Grossen und Ganzen ein überraschendes Debüt mit flinkem Plot und komplexen Figuren.
Webseite zum Buch246 Seiten, Textrahmen.
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Anaïs Meier: Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken
23. Juli 2021Ich habe es kürzlich schon gesagt: «Anaïs Meier ist ein böser Mensch». Gnadenlos haut sie die Lebenswelten der Menschen auseinander, die zwischen den Bergen und den Bergschnecken leben; also den Schweizer*innen. Mit böser Schreibe und analytischer Schärfe zeichnet Meier in ihren Kurzgeschichten Begebenheiten nach, die zwar frei erfunden, in ihren Zwischentönen aber so genau sind, dass es einem kalt den Rücken runterläuft. In emmentalischen Dörfern werden Schildkröten vererbt und die bekannteste Foodbloggerin der Schweiz besucht. Meier nutzt das, um daran traditionelle Geschlechterrollen zu spiegeln. Künzlis fahren in den Urlaub und dokumentieren das auch gleich auf der eigenen Webseite; Reisen dient der eigenen Horizonterweiterung. Gerade die Kürze der Texte beeindruckt, fein komponiert und äussert genau gearbeitet, tun sie richtig weh (da hilft auch die versöhnliche Zwiebel am Ende nichts mehr). Ich bleibe dabei: Anaïs Meier ist ein böser Mensch. Und wir benötigen dringend mehr davon.
Webseite zum Buch96 Seiten, mikrotext.
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Anni von Bergen: A Sauerkraut's Kitchen
18. Juni 2021Ein Kochbuch ganz ohne Fotos, eine Prämisse, die vorerst komisch anmutet, in Anni von Bergens Band aber hervorragend funktioniert. Die Autorin stellt dabei traditionelle Rezepte aus allen 16 Bundesländern vor. Vom Kalten Hund bis zur Pottsuse ist alles dabei, was man so kennt und mag. Die Gerichte wurden dabei aber nicht fotografisch, sondern illustratorisch umgesetzt. Der Rhabarberkuchen darf dabei auch ein wenig schräg stehen und zum Candlelightdinner mit in der Vase eingestellten Rhabarberresten laden. Das darf man durchaus auch als Ermutigung sehen; es locken nicht perfekt tapezierte Gerichte, sondern gezeichnete Lustmacher, die viel eher auch dem gutbürgerlichen Ursprung der meisten Rezepte entsprechen. Das Buch trumpft zudem auch mit seinem wertigen Äusseren auf, der schöne Halbleinenband mit Lesebändchen macht schlussendlich einfach sehr viel Lust zum Kochen. Was will man denn mehr von einem Kochbuch! Es bleibt jetzt nur noch eines, das beste Rezept aus dem Buch nachkochen: Labskaus, was sonst!
Webseite zum Buch168 Seiten, Jaja Verlag.
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Sabrina Öttl: Der erste Eindruck zählt!
5. April 2021So nebensächlich die Typografie oft behandelt wird, so zentral ist sie für die Wirkung eines Textes. Diese Besprechung ist in einer Grotesk-Schrift gesetzt (Antarctica) und wirkt ganz anders, als die langen Besprechungen in Serifenschrift (Atacama). Warum dem so ist und woran sich gute Typografie bemisst, davon erzählt Sabrina Öttls Buch. Alle wichtigen Elemente guter Typografie werden darin vermittelt und knapp aber präzise erklärt. Das Buch will sich selbst als Praxisworkshop verstanden wissen und steigt auch entsprechend schnell in die Materie ein. Auf zwei, drei Seiten werden so Themen behandelt, die ganze Bücher füllen könnten. Das funktioniert erstaunlich gut und liefert genug Grundlagenwissen, um sich später zu spezifischen Themen zu vertiefen. Wie es sich für Typografie-Bücher gehört, ist das Buch sehr aufwendig gestaltet und hochwertig produziert worden. Ein lohnender Einstieg in die Welt der Typografie.
Webseite zum Buch160 Seiten, Verlag Hermann Schmidt.
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Eimar O'Duffy: King Goshawk und die Vögel─ Übers. Gabriele Haefs
24. März 2021King Goshawk hat seiner Frau alle Vögel der Welt versprochen, was dank seines unermesslichen Reichtums kein Problem sein sollte. In aller Eile wird die ganze Welt danach abgesucht. Zeitgleich will sich ein Philosoph der Macht von Goshawk widersetzen und beauftragt im Himmel einen keltischen Helden mit der Gegenwehr. O'Duffys Auftakt zu einer Romantrilogie spielt satirisch mit den Auswirkungen des Kapitalismus und vermischt diese mit der irischen Mythologie. Dieser Mix ist an den besten Stellen sehr unterhaltend, gesamthaft aber zu lang, wie auch zu übertrieben und repetitiv in seiner Satire. Das hängt einerseits mit der Entstehungszeit des Bandes zusammen, andererseits macht die Übersetzung den sprachlich komplexen Text nicht einfacher. Zentrale Begriffe wie «Geis» (eine Verpflichtung, mit der Figuren der irischen Mythologie belegt sind), werden nur im (zwölfseitigen) Glossar erklärt, im Roman aber seitenlang benutzt. Ein grundsätzlich spannender Mix, aber keiner für mich.
Webseite zum Buch290 Seiten, Alfred Kröner.
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Angélica Freitas: Der Uterus ist gross wie eine Faust─ Übers. Odile Kennel
20. März 2021«denn eine gute Frau// ist eine saubere Frau». Der Auftakt zu Angélica Freitas' Gedichtband ist schon genauso zynisch, genauso analytisch treffend, wie es der ganze Rest des Bandes sein wird. In einfacher, direkter Sprache wird das Wesen der Frau beleuchtet, nur wenn sie sauber ist, kann sie eine gute Frau sein, völlig klar. Diese Frau ist eine Konstruktion, sie ist so weltumfassend gross, dass in ihrem Uterus ganze Kapellen und Bänke und Hostien Platz haben. Man braucht wenig Fantasie um zu merken, mit wie viel Wut Freitas ihre Gedichte niedergeschrieben hat und trotzdem hat sie es mit Witz getan, mit der schon angesprochenen analytischen Schärfe, die so genaue Sprachbilder produziert, dass man nur unentwegt nicken kann. Dazu gesellt sich die herausragende Übersetzung von Odile Kennel, die nicht nur übersetzt, sondern auch gleich in Fussnoten und Bemerkungen kommentiert hat. Dadurch entwirrt sich auch ein Übersetzungsdialog, der dem Band noch eine weitere Ebene und noch mehr Urgewalt verleiht.
Webseite zum Buch112 Seiten, elif.
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Yevgeniy Breyger: Gestohlene Luft
20. März 2021Der Gedichtzyklus «Königreiche», mit dem Breyger 2019 den Leonce-und-Lena Preis gewonnen hat, steht auch im zweiten Band des Lyrikers im Mittelpunkt. In strenger Form finden sich darin einerseits viele Motive: Gewalt, Vererbung, Verteidigen des Eigenen, eine dunkle Bedrohung, andererseits entziehen sich die Gedichte und Motive, wie immer in Breygers Lyrik, der Eindeutigkeit. Das erfordert eine dementsprechende motivische Suche, auf die man sich begeben muss, will man den Gedichten nachspüren, die Uneindeutigkeit schwappt aber nie in Beliebigkeit über. Umrahmt wird dieser Zyklus von einer dichterischen Selbstbeschreibung («meine eltern waren thermische gesetze, ich wurde niemals geboren») und der tierischen Fürsorge des Muttertiers. Überhaupt sind die Mütter zentrale Gestalten in diesem Band und so wohnt auch in diesen Gedichten ein wohliges Gefühl der uneindeutigen Wärme.
Webseite zum Buch72 Seiten, kookbooks.
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Roswitha Ziegler: Es war doch nur Sex
20. März 2021Tagträume, unerfüllte Wünsche, einseitiges Begehren, aufdringliche Blicke. Sie bilden die Grundantriebe, aus denen Roswitha Ziegler in ihrem Erzählband ihre Geschichten formt. Meistens stehen Männer im Mittelpunkt. Sie sind die, die begehren, blicken, tagträumen. Oft tun sie das unerwidert, meistens neben der Spur und an der Realität vorbei. Es schaudert einem oft beim Lesen dieser Erzählungen, die tief ins Zwischenmenschliche blicken lassen. Es ist eben doch nicht nur Sex, zu diesem kommt es gar nicht sooft, weil die Beziehungen schon vorher scheitern, oder die Wünsche an der Realität zerbrechen. Zieglers Geschichten sind kurz und erzählen in verknappter Form vom Dazwischen und vom Noch-nicht.
Webseite zum Buch112 Seiten, die brotsuppe.
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René Frauchiger: Riesen sind nur grosse Menschen
20. März 2021Die Riesen sind eines Tages zum Erliegen gekommen. Sie sind so gross, dass sie bewohnt werden können. Eine ganze Welt ist auf ihnen gewachsen, Mundgeruch haben sie trotzdem. Dazu kommt eine Grenzwacht, die eine Grenze bewacht, eigentlich aber Jagd spielt. Eine Entführte wird zur heimlichen Heldin, während der eigentlich für die Geschichte auserkorene Held Achilles auf den Gang der Dinge kaum Einfluss nimmt. Teil der Erzählung will er auch nicht sein, was er dem Erzähler in Pastaausbrüchen zu erklären versucht. Der steigt aber nicht darauf ein und lässt Achilles die Liebe suchen oder finden. René Frauchigers Debüt spielt mit der Erwartungshaltung seiner Leser*innen und entfaltet einen wilden Plot, der immer wieder aus den Bahnen gerät, weil sich nicht nur der Held, sondern auch die anderen Figuren dem Erzähler widersetzen (Orecchiette!). Alles scheint möglich in dieser phantastischen Welt und trotzdem ist sie der unsrigen immer wieder erstaunlich ähnlich. Die Gemüter sind engstirnig, die Horizonte klein. Und der Roman sehr lesenswert.
Webseite zum Buch258 Seiten, homunculus.