Sind alle hier Krokodile? – Aufzeichnungen eines Krokodils von Qiu Miaojin
Übersetzt aus dem Chinesischen von Martina Hasse
Nick Lüthi
Ein Krokodil sucht seinen Platz in der Welt. Den zu finden ist nicht leicht im Taiwan der 1990er-Jahre. Es müssen gesellschaftliche Vorurteile, Selbstzweifel und die Liebe, die grosse allumfassende Liebe, navigiert werden. Kein einfaches Manöver. Ganz besonders für Krokodile nicht.
Lazi ist Studentin an der Uni in Taipeh und bekommt bereits mit dem ersten Satz das Diplom für ihren Bachelor of Arts ausgehändigt. In 8 Notizbüchern lässt sie uns an ihrem Leben, ihrem Alltag und ihrem Begehren teilhaben. Lazi liebt Frauen, auch im vergleichsweise freien Taiwan keine einfache Sache. Zwar ist eine solche Liebe im halbwegs Verborgenen möglich, aber sie ist von Schuldgefühlen und potenziellen gesellschaftlichen Repressalien geprägt. Es hilft natürlich wenig, dass die Liebe zur älteren Shuiling Lazi in einen regelrechten Liebeswahn wirft.
Die Tagebucheinträge von Lazi sind ergreifend und äusserst ehrlich. In direkter, unverstellter Weise berichten sie von einem Alltag, der geprägt ist vom Anders-Sein-Wollen, aber eben auch vom Anders-Sein. Während ersteres erstrebenswert scheint, ist letzteres ein schweres Los. Es ist dieser Kontrast, in dem sich die zentralen Konflikte des Romanes spiegeln.
Einerseits schildert Miaojin radikal direkt die Gedankenwelt eines jungen Menschen, der nach Freiheit sucht, keine Ahnung hat was Freiheit ist und den Luxus geniesst, sich den ganzen Tag mit sich selbst beschäftigen zu können. Dieser junge Mensch kämpft aber auch mit psychischen Problemen und wird manchmal zum Geist, der nur des Nachts erscheint und den Tag im Bett sitzend und Nudeln schlürfend (wenn überhaupt) verbringt. Denn andererseits will Lazi eben nicht nur Anders-Sein, sie ist tatsächlich anders. Sie liebt Frauen. Versucht selbst aber immer wieder, dieses Begehren zu unterdrücken. Ihre Partnerschaften sind von kurzer Dauer und von vielen Fehlschlägen geprägt. Die jungen Frauen wollen sich ihre sexuelle Orientierung nicht eingestehen, verloben sich, heiraten. Alles, um ja nicht anders zu sein, denn ihr anders unterliegt der Furcht und sozialem Druck.
In diesem komplexen Konstrukt, Anders-Sein-Wollen und tatsächlich Anders-Sein (aber es nicht wollen), verpackt Qui Miaojin eine äusserst komplexe, lebensechte Figur, die widersprüchlich, lebensbejahend, verwirrend und eigennützig handelt. Lazi ist ein Alter Ego der Autorin und der Roman klar autobiografisch (das zeichnet Hannah Lühmann im Nachwort übrigens genauer nach). Miaojin abstrahiert von dieser Komplexität immer wieder, in dem sie in einigen Kapiteln ein Krokodil auftauchen lässt. Das Krokodil ist dabei unschwer als Allegorie für Lazi und ihre sexuelle Orientierung zu erkennen. Immer dann, wenn Lazi die Worte fehlen, übernimmt das Krokodil. Es streift einsam und alleingelassen in einer Menschenhaut durch Taiwan und versucht, seinen Platz zu finden.
Martina Hasse hat den Text aus dem Chinesischen übertragen. Im Deutschen ganz besonders gelungen ist der Wechsel zwischen den Sprachniveaus. Lazis (pseudo-)intellektuell angehauchte Sprache trifft auf gröbere, jugendliche Umgangsformen, was sich vor allem in den gewitzten, temporeichen Dialogen zeigt.
Miaojins Roman überzeugt auf viele Arten, ganz besonders aber durch seine herzzerreissende Schilderung der inneren Zerrissenheit seiner Protagonistin. Es ist wie so oft, einer dieser Romane, der fast nur autobiografisch sein kann, so genau und nah ist er bei seinen Figuren.
Qiu Miaojin: Aufzeichnungen eines Krokodils.
Aus dem Chinesischen von Martina Hasse.
Mit einem Nachwort von Hannah Lühmann.
Originalveröffentlichung 1994.
320 Seiten.
Ulrike Helmer.
Webseite zum BuchZum Buch: Klappenbroschur · Klebebindung
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