weder vor noch zurück
das alles hier, jetzt von Anna Stern
Nick Lüthi
Ein Magengrubenbuch.
Ananke ist gestorben. Im Freundeskreis fehlt plötzlich etwas. Zwei Erzählstränge. Das Danach und die Erinnerung, also das Davor. Die Zeit bewegt sich gleichzeitig vor und zurück. Während mit dem Verlust gekämpft wird, werden auch Erinnerungen wachgerüttelt, wird eine gemeinsame Kindheit, die im Erwachsenenalter verworrene und komplizierte Gruppenkonstellation, ein gemeinsames Leben, aufgeworfen. Wie Geister treten Menschen aus diesen Erinnerungen plötzlich in die Gegenwart, man trifft Menschen, die man schon lange zurückgelassen hatte. Und darüber steht der Schmerz. Ein Schmerz, der kaum Worte findet. Der ganz tief eingelassen ist, aus jeder Hautfalte dringt er hervor und erinnert wieder daran, dass etwas fehlt. Dass das Leben so urplötzlich anders geworden ist, dass man vor lauter Ungläubigkeit kaum geradeaus blicken kann.
Anna Stern hat sich für ihren neuesten Roman die gutturalen Zwischentöne des Lebens ausgesucht, diejenigen, die von ganz weit hinten kommen. Dabei ist der Roman äusserst direkt, es gibt keine Schonfrist, keine sanfte Einführung für diese Kehllaute. Ananke ist tot und das Leben somit für immer anders. Erzählt in der zweiten Person, lässt der Roman auch da keine Zeit zum Atmen. Von der Autorin äusserst geschickt gemacht, wird man beim Lesen zwangsläufig mit diesem Du, das da angesprochen wird oder spricht, man weiss es ja nicht so genau, zusammengeworfen. Umso radikaler muss man sich dadurch seinem Untersuchungsgegenstand preisgeben.
Die Worte im Roman sind direkt, poetisch. In kleinen Versatzstücken wird so eine gemeinsame Geschichte, ein gemeinsam verbrachtes Leben nacherzählt. Das ist selten überraschend, selten aufregend. Das muss es aber auch nicht sein, es ist das ganz normale Leben einer Gruppe von Freunden. Stern zeichnet aber diese Leben, gerade dasjenige der Hauptfigur Ichor, psychologisch sehr feinfühlig und direkt nach. Gemeinsam mit den anderen Zurückgebliebenen wird Ichor durch die Stufen der Trauer schreiten müssen. In ihren Versatzstücken komponiert Stern so eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine ungewisse Zukunft, die miteinander um Beachtung ringen.
Wie geschickt die Autorin mit der Erzählperspektive spielt, zeigt sich schon alleine daran, wie unterschiedlich der Roman gelesen wurde. Für Beate Tröger, die den Roman im Freitag besprochen hat, ist die Protagonist*in Ichor, also dieses ganz nach vorne dringende Du, ganz klar weiblich, während Gallus Frei in seiner Besprechung auf literaturblatt.ch schon deutlich unsicherer vermutet, dass es sich um eine männliche Figur handeln könnte. Der Roman selbst gibt dazu keinen Aufschluss. Soweit mir bekannt ist, gibt es keine einzige Stelle, die das Geschlecht der Hauptfigur klarstellen würde. Doch um diese Geschlechterfrage geht es auch gar nicht, sondern um die Leseerfahrung die sich dadurch zeigt. Diese beiden Rezensent*innen sind jeweils so tief in dieser grandios konstruierten Erzählperspektive versunken, dass es dann jeweils das eigene Geschlecht sein musste, dass sich da in der Hauptfigur zeigt.
Selten habe ich so geweint beim Lesen eines Buches. Meine Güte, mir stehen jetzt noch, beim Niederschreiben dieses Textes, Tränen in den Augen. Das mag an diesem vermaledeiten Jahr liegen, an den Menschen, für die dieses Jahr das letzte war. Aber ganz ehrlich, was wollen wir denn noch mehr von Literatur erwarten, als so tief nachempfundene Freundschaft, so viel um die Ohren gehauenes Leben? Anna Sterns Buch rüttelt tief, spricht selbst in diesen aus der Tiefe hervorgeholten Tönen. Das tut weh. Es nimmt einem kurz die Luft weg, wie der Schlag des Boxers in die Seiten. Es ist eben genau das. Ein Magengrubenbuch.
Zum Buch: bedruckter Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (grau) · Lesebändchen (gelb) · Klebebindung
Mehr über die Bücher des Salis Verlags:
2019 haben sich in Zürich die beiden Verlage Elster und Salis zusammengeschlossen und verlegen nun gemeinsam als Elster & Salis Belletristik und Sachbücher. Unter dem Namen Salis erscheinen deutschsprachige Erzählungen und Romane, während Elster internationale Literatur in Übersetzung präsentiert.
PS. Als einzige Wermutstropfen sind mir hier wirklich nur die typografischen Entscheidungen zu vermerken. Einerseits wurde konsequent kleingeschrieben, sogar Satzanfänge, ansonsten aber orthografisch korrekt (gerade in Bezug auf die Interpunktion). Andererseits wurden die Erinnerungen in Grau gesetzt, um sie vom schwarzen Jetzt abzusetzen. Für beides gilt aber, dass sie einzig den Lesefluss stören, ansonsten der Geschichte eher nicht zuträglich sind. Hier wäre weniger mehr gewesen.
We are a hover of trout.
Thanks for reading us.