Ankommen? – Das Buch von der fehlenden Ankunft von Lina Atfah
Übersetzt aus dem Arabischen unter anderem von Mahmoud Hassanein und Osman Yousufi
Nick Lüthi
Bereits im ersten Gedicht “Das Navi” tauchen die Motive auf, die in Lina Atfahs Gedichten eine zentrale Rolle spielen. Es geht um Navigation, ums Ankommen und ums Anderssein. Jedes Gedicht lotet aus, wo der Platz in dieser Welt gefunden werden kann, wo man selbst hingehört und wie genau man im Vergleich zu den Anderen dies tut. Hier versammelt sind 23 Gedichte in einer zweisprachigen Ausgabe Arabisch-Deutsch. 5 der arabischen Ursprungsgedichte sind in zwei verschiedenen Deutschen Fassungen abgedruckt, der deutschsprachige Teil umfasst also eigentlich deren 28 Gedichte. Umrahmt werden die Gedichte von einem Vorwort von Nino Haratischwili.
Lina Atfah stammt aus Syrien, musste von dort 2014 aber fliehen und lebt nach längerer Flucht nun in Deutschland. Die Gedichte sind geprägt von Erinnerungen an die Flucht, an ihre syrische Heimat und an die Ankunft in Deutschland. Meistens sind die Gedichte lang und erstrecken sich über mehrere Seiten. Auch variiert die Zeilenlänge von wenigen Worten bis hin zu ganzen Sätzen. Die herausragendste Eigenschaft von Atfahs Lyrik sind die starken Sprachbilder, die so berauschend wie bedrückend sind. In diesen Sprachbildern liegt die ganze Kraft ihrer grossartigen Gedichte, denn dort spiegelt sich, was eigentlich nicht mehr erzählt werden kann. Dasjenige wofür es keine Worte geben kann, weil es so schrecklich und traumatisch ist. Es findet in einer methapern- und allegorienreichen Sprache seinen Platz.
So erinnert sich etwa die Erzählstimme im Gedicht “Der Friedhofsweg” an einen Trauerzug durch einen Friedhof und schliesst diese Schilderung des Trauerzuges mit:
ich fürchtete um die, die sich der Beerdigung des Echos anschlossen
Erinnert wird dabei eine Beerdigung während derer Streitkräfte des syrischen Regimes das Feuer auf Trauernde eröffneten. Der Beginn des Gedichts ist sehr atmosphärisch, wird doch zuerst dieser Trauermarsch dargestellt und mit dem Vater im Tränengewand abgeschlossen, spielt mit der Beerdigung des Echos aber auch schon auf das an, was im Anschluss passieren wird und wofür es kaum Worte gibt. Auch ist das Motiv der Navigation hier zentral, einerseits wortwörtlich, indem der Trauerzug sich seinen Weg durch den Friedhof bahnt, aber andererseits auch im übertragenen Sinne soll doch eine Welt navigiert werden, die man nicht mehr versteht. Dieses Motiv der Navigation findet sich etwa auch in “Am Rande der Rettung”, das mit folgenden Zeilen beginnt:
fliehen von Hauptstadt zu Hauptstadt, von einer Grenze zur anderen
als seien die Landkarten Illusionen
Die Karte, die hier nur noch rein illusorisch wirkt und sich somit als nutzlos erweist, bildet einen starken Kontrast zu “Das Navi”, wo das elektronische Hilfsmittel den Weg sogar bis ins Bett weist. Und in genau diesem Kontrast lebt und floriert Atfahs Sprache, steht immer zwischen einer Welt, in der jede Landkarte nutzlos geworden ist, in der aber zugleich und widersprüchlicherweise, die elektronische Navigation bis auf den Zentimeter genau funktioniert. In diesem Widerspruch verstecken sich auch die eingangs erwähnten Motive des Navigierens, Ankommens und Andersseins.
Alle Gedichte Lina Atfahs wurden von ihr auf Arabisch verfasst und gleich von einer ganzen Übersetzerschar (13) ins Deutsche gebracht. Die meisten Gedichte wurden von jeweils zwei Personen übertragen. Am häufigsten tauchen dabei Mahmoud Hassanein und Osman Yousufi als Übersetzer auf, die beiden sind oft gepaart mit Lyriker*innen wie Dorothea Grünzweig, Hellmuth Opitz, Jan Wagner oder Brigitte Oleschinski. Es lässt sich hier also vermuten, dass Hassanein und Yousufi eine erste Übertragung aus dem Arabischen gemacht haben, die von den Lyriker*innen dann weiter nachgedichtet worden sind. Weiter fällt auf, dass 5 der 23 Ursprungsgedichte auf Deutsch doppelt vorhanden sind, jeweils von einer anderen Lyriker*in nachgedichtet. Das ist äusserst spannend und ein sehr erhellender Einblick in die Übertragung von Gedichten in andere Sprachen. Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Triëdere greift übrigens das Thema Gedichte übersetzen auf, wer sich da noch weiter einlesen möchte. Beide Ansätze, die der Vielzahl an Übersetzer*innen und die der zweifachen Übersetzung einzelner Gedichte sind äusserst interessant. Ich hätte mir hier aber etwas mehr an Information gewünscht, weshalb wurden beispielsweise diese Mühen bei 5 Gedichten gemacht, bei anderen aber nicht? Sind diese Gedichte besonders? Sind sie besonders schwierig zu übersetzen? Wurden sie bereits veröffentlicht und nun noch einmal neu nachgedichtet? Und auch die Überlegungen zur schieren Anzahl an beteiligten Personen wäre ein spannendes Thema für ein Nachwort gewesen.
Haptisch und optisch ist “Das Buch von der fehlenden Ankunft” ein schmuckes Stück. Der gewählte Karton fühlt sich toll an und Covergestaltung und Farbgebung, die sich in den Lesebändchen spiegeln, sind makellos. Der einzige Punkt, der mich verarbeitungstechnisch an diesem Band gestört hat, ist rein typografischer Natur. Fast jedes Gedicht hat mehrere Zeilen, die nicht in ihrer Gänze auf einer Linie Platz haben. Meist sind es aber nur zwei, drei Worte die nicht mehr Platz haben und umgebrochen werden müssen. Durch diese vielen Umbrüche entsteht ein sehr unruhiges Satzbild, welches sowieso schon unruhig ist, durch die vielen ungleich langen Zeilen. Mit einem etwas breiteren Format, hätte man diese vielen Umbrüche schon in grosser Zahl vermeiden können, um das Satzbild so deutlich zu beruhigen. Schade, wurde davon abgesehen.
Lina Atfahs Gedichte möchte ich jedem ans Herz legen. Einerseits der Sprachgewaltigkeit ihrer Schöpferin wegen, andererseits aber, weil diese Gedichte Geschichten erzählen die durch Mark und Bein gehen. Schön verarbeitet in einer schmucken zweisprachigen Ausgabe, kann man bei diesem Gedichtband wirklich nichts falsch machen. Der einzige Fehler bestünde darin, sich nicht mit diesen Gedichten zu beschäftigen.
Lina Atfah: Das Buch der fehlenden Ankunft.
Aus dem Arabischen übertragen von Dorothea Grünzweig, Mahmoud Hassanein, Brigitte Oleschinski, Hellmuth Opitz, Christoph Peters, Annika Reich, Joachim Sartorius, Mustafa Slaiman, Suleman Taufiq, Julia Trompeter, Jan Wagner, Kerstin Wilch, Osman Yousufi.
Deutsch-Arabisch.
Mit einem Vorwort von Nino Haratischwili.
152 Seiten.
Pendragon.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Karton) · Klebebindung · zwei Lesebändchen (hellrosa, hellblau)
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