Das Licht, das Schatten leert von Tina Brenneisen
Nick Lüthi
Wo Schatten ist, da muss auch Licht sein, so die alte Binsenweisheit. Wenn das Licht aber wie in Tina Brenneisens Graphic Novel eines ist, das Schatten leert, gestaltet sich die Aufgabe ungemein schwieriger. Berührend und brutal ehrlich erzählt Tina Brenneisen vom Wiederfinden des Lichts und dem Überwinden leerer Schatten.
Es passiert selten, kommt aber vor: manchmal fehlen mir für ein Buch lange die Worte. Das sagt eigentlich nie etwas über die Qualität eines Textes aus, im Gegenteil, je mehr mich ein Text berührt, desto eher stösst er an unbekannte Orte vor und rüttelt Dinge wach, für die ich dann erst eine Sprache finden muss. Und das braucht Zeit. Genau so ging und geht es mir mit Tina Brenneisens Das Licht, das Schatten leert. Schonungslos offen und stellenweise schon fast auf brutale Art und Weise unbeschönigt – wie könnte man auch anders – verarbeitet Tina Brenneisen in diesem Graphic Novel die Totgeburt ihres Sohnes.
Tini und ihrem Freund Fritzemann wird im Spital das eigene tote Kind in die Arme gelegt. Ein Abschied, bevor es je zu einer Begrüssung gekommen ist. Die folgenden Wochen und Monate verkriechen sich die beiden in der eigenen Wohnung, so gut es halt geht. Jeden sozialen Kontakt versuchen sie zu vermeiden, denn wie soll man den Nachbarn und Bekannten erklären, dass man aus dem Spital nicht mit einem Kind, sondern nur mit einer Sporttasche zurückgekehrt ist? Wie soll man mit den eigenen Gefühlen klarkommen? Dem eigenen Körper, der nicht sachgemäss funktioniert hat? Wie zur Hölle soll man all das verkraften, wenn selbst dem Priester nur Tränen und keine Worte mehr zufallen?
Tina Brenneisen hat aus diesem schrecklichen Ereignis eine tiefschürfende Graphic Novel geschaffen. Die Erzählung ist unglaublich nah an Ich-Erzählerin Tini und folgt einem klassischen Modus der Literatur, sie stiftet Erkenntnis. Stellenweise ist diese Erkenntnis so brutal ehrlich, dass ich das Buch zur Seite legen musste, um den Inhalt sacken zu lassen. Dieses Buch funktioniert auch so gut, weil es gerade kein Roman ist, eben nicht nur aus Text besteht. Denn immer dann, wenn Worte den Gefühlen, Gedanken und Geschehnissen nicht mehr Rechnung tragen können, vermitteln die Bilder.
Brenneisens Zeichnungen haben eine gewisse Unförmigkeit, die ganz bewusst den Emotionen der Protagonistin folgt. Tini wird dann plötzlich ganz klein, die Wände erheben sich zu unüberwindbaren Türmen, die Geometrie der Gegenstände verzieht sich. Unterstützt wird das von der Farbgebung, die immer die Gefühlszustände mitträgt, den Herbst in entkühlte Melancholie taucht, den Schrecken in ein tiefes Rot hüllt oder den Sommer in ein verzerrtes Grün wirft. Ergänzt wird das durch die herausragende Buchgestaltung (wie immer bei der Edition Moderne). Das raue, leicht faserige Papier lässt die Farben glänzen. Der Titel auf dem Cover ist fluoreszierend und gesamthaft ist die fadengeheftete Broschur schlicht ein Schmuckstück, welches man sich ins Regal stellen will.
Kein Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe, hat mich so berührt wie die Graphic Novel von Tina Brenneisen – was die Graphic Novel zwar nicht zum besten, aber zum berührendsten Buch des letzten Jahres macht. Das Licht, das Schatten leert erzählt bewusst subjektiv von Verlust, Trauer und dem Finden einer neuen Lebenswirklichkeit. Tina Brenneisen ist es gelungen, eigene Traumata in ein bewegendes Werk zu packen, das ohne falschen Pathos, ohne Dramatisierung davon erzählt, was mit einem passiert, wenn man das eigene Kind noch vor der Geburt verliert. Wenn ich Euch in diesem Jahr nur eine einzige Graphic Novel ans Herz legen möchte, dann diese hier.
Zum Buch: Klappbroschur · fadengeheftet · Titel aus fluoreszierender Schrift
Mehr über die Bücher der Edition Moderne:
Die 1981 entstandene Edition Moderne ist der einzige Comicverlag der Deutschschweiz. In Zürich werden jährlich etwa 12 Bücher produziert, viele davon sind Erstveröffentlichungen von jungen deutschsprachigen Zeichner*innen.
Das Verlegerinnenteam um Claudio Barandun und Julia Marti war zu Gast im BookGazette Podcast. Nachzuhören hier:
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