Briefe von der Front
Das Loch von Simone Hirt
Nick Lüthi
Eine Anklageschrift, verpackt in Briefen. Simone Hirts Roman wirft wütende Zeilen dem Abgrund entgegen. Energisch und geschwätzig.
Eine junge Schriftstellerin. Kürzlich erst Mutter geworden. Plötzlich sitzt sie zu Hause und starrt in ein Loch. Der Lebensmittelpunkt hat sich verlagert, es geht nun nicht mehr um Buchmessen und ums Schreiben, es geht um den neugeborenen Sohn. Sie ist wütend, einsam, glücklich, geistig unterfordert, manchmal vom Leben überfordert. Und so beginnt sie Briefe zu schreiben, an den Kanzler, den sie gleich duzt, an Jesus, Mohammed, ans Loch, an die Frauenministerin, an ihre Freundinnen, an Werthers Lotte, an Rosa oder an Virginia. Die Briefe werden zum Kanal der Verzweiflung und zur Rettung des inneren Friedens.
Es sind viele Fragen und Umstände, die die junge Frau umtreiben, und die vielfältig an ihrem neuen Erlebnishorizont anknüpfen. Sei es nun die Sinnfrage des Tweets ihres Mannes, der seine grosszügige Kinderbetreuung während der Buchmesse anpreist, oder die Frage nach ihrer Daseinsberechtigung, die Kommentare um ihren Beruf (wie gut, dass sie schreibe, das könne man ja gut von zu Hause aus), weiche Beckenbodenmuskulatur oder Waschmaschinen. Wie das Leben so ist, Antworten auf diese Fragen gibt es nicht, man muss sie selbst finden. Und so bleiben die Adressaten ihrer Briefe Projektionsflächen, die sich stumm ihre Gedanken und Überlegungen anhören.
In den besten Momenten ist dieser Roman sehr witzig und sehr nah am Leben. Behandelt Themen, die in der Literatur oft zu kurz kommen und vermittelt dadurch ein spannendes, unbekanntes Bild. Der Roman kennt zwar keine Handlung – vereint werden die gesammelten Briefe aus dem Lauf eines Jahres – aber durch den gelungenen Mix aus Wut, Einblick in Unbekanntes und der Anprangerung bestehender Missverhältnisse, bleibt er unterhaltsam, driftet aber stellenweise in Redseligkeit ab.
Das Loch ist ein sehr geschwätziger Roman, der Leerstellen oder Unerklärtes nicht kennt. Das ist hauptsächlich eine Folge der Konstruktion; durch die rein monoperspektivische Briefschreiberei können zwischen verschiedenen Figuren keine Spannungen entstehen. Gepaart mit der Handlungsarmut, wird das stellenweise zu viel. Spannung kann ja nur innerhalb der Briefe zwischen gegenwärtigem und vergangenem Ich ihrer Schreiberin entstehen. Das geschieht aber nicht, die Briefe stehen grösstenteils für sich selbst und haben essayistischen Charakter, was eine Entwicklung verunmöglicht. Die Lösung für die Handlungs- und Spannungsarmut ist nun eben die Redseligkeit, was witzig und durchaus clever konstruiert ist, auf über 270 Seiten dann stellenweise aber etwas bemüht wirkt.
Simone Hirth hat einen unterhaltsamen Roman geschrieben, der geschickt einer in der Literatur zu wenig betrachteten und beachteten Perspektive folgt und diese sehr bildhaft und lebensnah nacherzählt. Trotz dieser gekonnten Perspektivenbildung, ist der Roman jedoch zu lang, gerade weil er weder Spannung noch Handlung kennt und seinen Schwung somit alleine aus der geschilderten Perspektive beziehen muss.
Zum Buch: bedruckter Schutzumschlag · bedruckter Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (gelb) · Lesebändchen (gelb) · Klebebindung
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