dekarnation von Eva Maria Leuenberger
Nick Lüthi
Tal. Moor. Schlucht. Und wieder Tal. Sie sind so einprägsam wie simpel, die Schauplätze von Eva Maria Leuenbergers Lyrik. Das lyrische Ich, welches im Tal erwächst, wird im Moor beginnen zu zerfallen. Der Prozess der Dekarnation wird da einsetzen und das Ich so lange zerfallen, bis nur noch Knochenmasse übrig ist. In der Schlucht wird die restliche Haut vollends verschwinden, sie fällt einfach ab. Aufhalten lässt sich die einmal begonnene Dekarnation nicht.
Will man diesen Gedichten begegnen, so muss man zuerst die eigenen Missverständnisse aus dem Weg räumen. Das zentrale Motiv der Dekarnation lässt auf düstere Gedichte schliessen, die Schauplätze lassen Naturlyrik vermuten. Auf den ersten Blick kann man sich das auch bestätigen, die vermoderte Moorleiche mit dem bewachsenen Rückgrat ist ein düsteres Motiv und auch die Natur steht an zentraler Stelle und wird in vielfacher Weise besungen. Beim Lesen stellt sich aber irgendwann ein anderes Erleben ein, diese Gedichte scheinen nicht wirklich düster zu sein und handeln auch nicht ausschliesslich von der Natur. Denn dafür passiert zu viel, dafür gibt es zu viele Ichs, die zu sprechen beginnen. Keines dieser Ichs beklagt sich, niemand ist traurig, verletzt, wütend. Die Dinge sind, wie sie sind, was zerfällt, zerfällt. So komisch wie das klingt, der Grundton dieser Gedichte ist lebensbejahend, obwohl das zentrale Motiv der Zersetzung das genaue Gegenteil darstellt. Alles lebt, denkt, spricht und flüstert. Auch der Standpunkt der Naturlyrik lässt sich nicht halten. Die Gedichte sind zu vielfältig, zu raffiniert konstruiert und zu breit in ihren Verweisen auf Sophokles, Euripides oder Maggie Nelson, um sie mit einer Bezeichnung wie Naturlyrik fassen und begreifen zu wollen.
Was haben wir aber dann? Eine Lyrik, die sich an den Motiven klassischer Naturlyrik bedient, vordergründig die weite Ebene im Tal, die engen Gänge der Schlucht, besingt. Eine Lyrik mit morbider Grundstimmung, die, und genau das ist das faszinierende daran, diese morbide Grundstimmung der Dekarnation nicht poetisch ausnutzt, sondern diese nur beschreibt. Der Zerfall ist ein unumstössliches Faktum in der Welt dieser Gedichte, man richtet sich also besser danach.
wie pixel zerkrümelt der rand
staub legt sich über das gras:
kein wind stört ihn. ich stehe auf
und berühre das wasser im bach
ich bin allein: die welt
in den körper gestürzt
ich öffne meinen mund
kein laut klingt
ich bin allein
Man kann diese Gedichte als harmlose Sprachfetzen lesen. In einfacher Sprache werden Moor, Tal, Schlucht, Berge und Seen besungen, ab und an spricht ein Ich und macht sich Gedanken. Damit tut man den Gedichten natürlich unrecht, was ist ein Fetzen denn anderes, als der abgerissene Teil eines Ganzen. In ihrer Gesamtheit bilden die Gedichte ein lyrisches Gesamtkunstwerk. Ganz im Sinne der Gestaltpsychologie entfaltet sich die komplette Gewalt dieser Gedichte erst, wenn man sie als ein Ganzes betrachtet. Die volle Wirkung, die vibrierende Kraft dieser Gedichte entsteht erst im Zusammenzug. Das ist keine harmlose Naturlyrik, das ist ein poetischer Abgesang auf den Zerfall.
dekarnation von Eva Maria Leuenberger lässt sich nicht einfach so fassen. Dadurch ist es auch so schwierig, genau zu beziffern, wo die Kraft dieser Gedichte herrührt. Die Komposition ist herausragend, sowohl was das einzelne Gedicht als auch die Gesamtmenge der Gedichte angeht. An keiner Stelle könnte ein Satzzeichen verschoben, ein anderes Wort gewählt werden. Diese Lyrik kommt in einem harmlosen Kleid daher. Erst nach und nach, wie die Haut der sich zersetzenden Leichen, wird ihr wahres, knochiges Gerüst entblösst. Das ist gewaltig.
Zum Buch: bedruckter Einband (Karton) · Klebebindung
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