Der Amokläufer & Episode am Genfer See
Nick Lüthi
Stefan Zweig ist nun wahrlich kein Unbekannter. Trotzdem gelingt es mit dieser Neuausgabe zweier seiner Novellen, neue Seiten des Schriftstellers zu betonen. Durch geschickte Kontextualisierung werden die Texte zu hochaktuellen Zeugnissen gesamteuropäischen Denkens und zur Reflexion über Grenzen.
Anstelle eines klassischen Vorworts wird die Leser*in beim Aufblättern mit zwei kurzen Texten des Autors begrüsst, die zuerst so gar nicht zum Ton und zur Stimmung der beiden Novellen passen wollen. In Die geistige Einheit Europas und Sie standen an den Grenzen sinniert Zweig über die Einheit der Menschen und über die damaligen Flüchtlingsströme aus Österreich und Deutschland. Nichtsahnend landet man so in den Tiefen weltpolitischen Denkens und kann nur ahnen, wie aufgerüttelt und desillusioniert Stefan Zweig bei der Niederschrift gewesen sein muss. Schmerz und Irriation sprechen aus jeder dieser Zeilen. Hier spricht einer, so scheint es, der mit glasklarem Blick bereits die Wirklichkeit erkennt, die sich erst zu Formieren beginnt, dabei aber tatenlos zuschauen muss und unfähig ist, an den Strukturen Veränderung anzubringen.
Mit diesen eindringlichen Worten, wird das ganze folgende Werk in einen Kontext gesetzt, der bei der Episode am Genfer See von vornherein Sinn ergibt, bei Der Amokläufer aber zuerst erstaunt. Eingebettet in eine Rahmenhandlung erzählt Zweig darin die Geschichte eines Arztes, der mittellos seinen Dienst in den Kolonien verrichtet, dort von all seinen Ambitionen ablässt und sich nach einer Rückkehr sehnt. Bis ihn eine weisse Frau “Amok” laufen lässt. Der zur Entstehungszeit der Novelle noch ungebräuchliche Begriff wird hier im ursprünglichen Wortsinne verwendet. Der Arzt verliert alle Kontrolle und verfolgt die Frau, nachdem sein unmoralisches Angebot von ihr abgeschlagen wurde.
Vordergründig wird damit also nicht klar, was diese Erzählung mit Flüchtlingen, Kulturen und einem vereinten Europa zu tun haben soll. Ganz anders bei der Episode am Genfer See. Ein Flüchtling landet in einem kleinen Dorf. Die vorerst freundlichen und hilfsbereiten Dörfler werden des unbekannten Mannes schnell überdrüssig und so wird aus dem unerwarteten, schnell ein ungebetener Gast, der nicht in die Gemeinschaft passen soll.
Stefan Zweig ist ein grosser und bekannter Autor, seine Sprachkunst stellt er auch in diesen beiden Novellen zur Schau. Dieses Buch überzeugt aber nicht, weil darin zwei Novellen von Stefan Zweig gesammelt wurden, sondern weil fast 100-jährige Texte so geschickt vereint und gebündelt wurden, dass dadurch ein hochaktuelles Werk entsteht. Dies geschieht aber nicht durch Vor- oder Nachwörter, die eine bestimmte Lesart vorschreiben wollen. Es geschieht ganz subtil und wie von selbst, in den Worten des Autors. Es sind die gleichen Themen, die uns auch heute umtreiben. Fremdsein, Anderssein, Grenzen, Flucht, Neuanfänge.
Zu den grossen Themen kommt eine herausragende Buchgestaltung. Der Verlag Topalian & Milani ist für seine wunderschönen Ausgaben bekannt und auch hier wird niemand enttäuscht. Der grossformatige Halbleineneinband ist von Michael Hahn sehr passend illustriert worden, punktet zudem mit schwerem Papier und gekonnter Typografie. Jedes kleinste Detail wurde bedacht. Sogar der für die Heftung verwendete Faden hat nicht das übliche Weiss, sondern ist, passend zur restlichen Buchgestaltung, rot.
Das hier ist kein mit den gemeinfreien Texten eines bekannten Autors zusammengeschustertes Buch. Im Gegenteil, durch geschickte Kombination wurden die Ursprungstexte in die Gegenwart geholt und die darin schon immer verborgenen Wirklichkeiten sehr klar zum Strahlen gebracht. Gepaart mit ausserordentlicher Buchgestaltung ist das ein Werk, dass man jeder Europäer*in (und jeder Weltbürger*in) in die Hand legen sollte, denn die darin besprochenen Themen betreffen uns alle gleichermassen.
Stefan Zweig: Der Amokläufer, Episode am Genfer See. Zwei Novellen.
Originalveröffentlichung 1927/1928.
Illustriert von Michael Hahn.
176 Seiten.
Topalian & Milani.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Halbleinen) · bedrucktes Vorsatzpapier (Illustration) · fadengeheftet (rot) · schweres Papier
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Der Verlag Topalian & Milani trägt die Namen der Grosseltern der beiden Verlagsgründer Florian L. Arnold und Rasmus Schöll. Beide Namen drohten auszusterben, genauso wie der Verlag den Namen neues Leben eingehaucht hat, werden in Obereichingen seit 2015 besondere und vergessene Bücher mit neuer Lebenskraft versehen.
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