Der letzte Sommer von Ricarda Huch
Nick Lüthi
Ricarda Huch (1864-1947) reiht sich mit ihrem Werk ein, in die Reihe zu Unrecht kaum beachteter oder vergessener Autorinnen. Sie gesellt sich zu Autorinnen wie Gutti Alsen, Friederike Manner oder Auguste Hauschner, deren allen Werk nicht die Rezeption erfahren hat, die es verdient hätte. Huchs Werk ist insofern besonders, als es auch noch ein äusserst breit gefächertes ist, vom geisteswissenschaftlichen Aufsatz über Gedichte und Romane findet sich eine sehr grosse Bandbreite in ihrem Werkkorpus wieder. So etwa auch die Briefnovelle Der letzte Sommer, die nun im Imprint Gatsby des Kampa Verlages neu erscheint. Ursprünglich erschienen war die Novelle 1910. Seit der letzten Ausgabe aus den 70er Jahren war das Werk vergriffen.
Eine reiche russische Politikerfamilie verbringt den Sommer auf dem Land. Die Familie hat einen jungen Mann eingestellt, der ihr Oberhaupt, Jegor von Rasimkara, Gouverneur von St. Petersburg, schützen soll, da dieser nach Unruhen die Universität schliessen liess und Todesdrohungen erhalten hat. Der Gouverneur macht sich keine wirklichen Sorgen, viel eher liess er Lju zur Beruhigung seiner Frau und der drei erwachsenen Kinder einstellen. Der charmante und wortgewandte Lju hat die Familie bald um den Finger gewickelt, alle sind sie fasziniert von ihm.
Erzählt wird die Geschichte dieses Sommers in Briefen. Sicherheitsmann Lju schreibt an einen Vertrauten in der Hauptstadt, die Kinder der Familie an die Tante oder Freunde und auch die Mutter schreibt ihrer Schwester ab und an einen Brief. Bedingt durch diesen Aufbau ist die Novelle sehr leichtfüssig und liest sich ziemlich schnell und wohlgefällig weg. Durch die Konstruktion wird aber auch viel Geschehenes weggelassen und erst im Nachhinein und durch subjektive Reflexion beleuchtet und betrachtet. Auffallend ist auch, dass die Angeschriebenen selbst nie zu Wort kommen, sich also kein Dialog entwickelt und die Briefe als Monologe in den Äther hinausgeschossen werden.
Bis daher wäre Der letzte Sommer also einfach eine gut und geschickt konstruierte Briefnovelle. Hinter dieser Wohlgefälligkeit versteckt sich aber eine brodelnde Masse. Durch den historischen, bei Huchs Niederschrift natürlich fast zeitgenössischen, Bezug, wird einerseits eine Gesellschaft porträtiert, die kurz vor dem Auseinanderbrechen steht, andererseits werden aber auch die psychologischen Folgen dieses drohenden Auseinanderbrechens in den Figuren gespiegelt. Die Frau des Gouverneurs kommt kaum zur Ruhe, während die erwachsenen Kinder in kindlicher Unbekümmertheit voranschreiten und der Gouverneur mit stoischer Ruhe und sturem Machtbewusstsein dahingleitet. Und Lju heckt da natürlich noch einmal ganz andere Pläne.
Zum Glück bekommen fast vergessene Autorinnen wie Ricarda Huch Neuveröffentlichungen ihrer Werke. Der Kampa Verlag hat dem Werk eine hübsche Erscheinung verpasst, einziger Wermutstropfen bleibt das fehlende Nachwort, welches einer Autorin vom Format Huchs mehr als zugestanden hätte. Der letzte Sommer von Ricarda Huch ist eine Novelle, die durch Form, Konstruktion und Sprache wahnsinnig leicht wirkt. Die tiefergehenden Themen und Motive tauchen aber bald unter der Oberfläche auf. Es ist wichtig, Autorinnen wie Huch wieder zu entdecken und zu lesen.
Ricarda Huch: Der letzte Sommer.
Originalveröffentlichung 1910.
144 Seiten.
Gatsby (Kampa Verlag).
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Leinen) · Klebebindung
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Und dann war er da, der Kampa Verlag. 2018 enstand mehr oder weniger aus dem Nichts ein bemerkenswerter Verlag in Zürich. Verlegt wird ein umfangreiches Literatur- und Sachbuchprogramm, umrahmt von Kriminalliteratur, im Besonderen der Werke von Georges Simenon.
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