Der Mitternachts-Scholar von Shi Dong-Shan
Übersetzt aus dem Englischen von Ah Fu
Nick Lüthi
Bai Hsing ist ein junger chinesischer Gelehrter. Seine Ehe wird ihm schnell langweilig, weshalb die ursprüngliche Suche nach Potenzpillen zu einer willkommenen Reise wird, die ihm zum Ausbruch aus der Ehe dient. Er freundet sich auf der Reise mit dem Taoisten Raubein an, der ihm sagenumwobene Potenzpillen beschafft und auch gleich eine Operation für Bai Hsings Penis, im Roman übrigens konsequent als “Jadestengel” ausgewiesen, veranlasst. Der so zu unsagbarer Grösse angeschwollene Penis, erlaubt es Bai Hsing, durch China zu ziehen um nächtelang Frauen zu beglücken.
Auf einem dieser Raubzüge betäubt er mit einem Trunk eine Witwe und deren Kammerzofe und vergewaltigt die beiden Frauen. Die verlobte Zofe erhängt sich am nächsten Morgen, sie sieht keinen Weg mehr, wie ihre Ehre noch zu retten wäre. Als ihr Verlobter A-Feng davon erfährt, schwört er Bai Hsing Rache und nimmt die Verfolgung auf. Der Perspektivenwechsel zu A-Feng ist aber nicht permanenter Natur, der Blickwinkel des Romans bleibt weiterhin dicht an Bai Hsing, der in der Folge noch viele Eroberungen macht und diese mit seinem “Jadestengel” beglückt.
Shi Dong-Shan ist mit grosser Wahrscheinlichkeit das Pseudonym von Yao Ching (1738-1778). Ching stammte aus reichem, bürgerlichen Hause und war ein Liebhaber der Dichtung und Kalligrafie. Der Mitternachts-Scholar wurde zu Lebzeiten Chings nicht veröffentlicht, er ist erst nach seinem Ableben von Freunden als Privatdruck publiziert worden. Ferguson McAllister hat diesen Roman irgendwann einmal (dazu finden sich leider weder im Nachwort noch sonstwo genaue Angaben) auf Englisch nacherzählt und wiederum als Privatdruck herausgegeben. Die nun bei Prong Press erschienene Version von Ah Fu ist die deutschsprachige Nacherzählung von McAllisters Version.
Bai Hsing ist ein scheusslicher Protagonist und wird auch im Text selbst als “Wüstling” ausgewiesen. Der Roman besteht hauptsächlich aus der Nacherzählung der sexuellen Machenschaften von Bai Hsing. Diese “Machenschaften” sind nicht immer einvernehmlich und bestehen unter anderem aus einer Vergewaltigung und einer weiteren Vergewaltigung mit anschliessendem Mord. Rein aus dem Werk heraus lässt sich nicht beurteilen, inwiefern die Schilderungen solcher Gewalttaten teil chinesischer Erzähltraditionen sind. Gerade wenn ein Werk über 250 Jahre alt ist und aus einer bestimmten (Erzähl-)Tradition entstammt, wäre es mindestens wünschenswert, wenn nicht sogar zwingend notwendig, das Werk in einen entsprechenden Kontext zu setzen, besonders wenn die im Roman gelebten Moralvorstellungen dermassen mit heutigen Auffassungen kollidieren. Im Text selbst werden die Gräueltaten von Bai Hsing nicht verurteilt und weder in der editorischen Notiz, noch im Nachwort des Übersetzers wird weiter auf diese eingetreten.
Das geht sogar so weit, dass das Buch vom Verlag als “erotischer Roman aus der Ming-Dynastie” angepriesen wird. Die uneinvernehmlichen sexuellen Gewalttaten des Mörders und Vergewaltigers Bai Hsing werden als “Erotik” beworben. Das dürfte eigentlich nicht passieren. Natürlich kann es durchaus legitim sein, einen solchen Roman zu veröffentlichen. Ihn aber als erotisches Werk anzupreisen, ist eine schändliche Irreführung. Zögerlich versucht man sich hier der verlegerischen Verantwortung zu entziehen, wenn es im Klappentext und Nachwort heisst, der Roman stehe ganz im Zeichen “chinesischer Erbauungsliteratur”. Von welcher Art Erbauung sprechen wir aber hier? Der Mörder und Vergewaltiger Bai Hsing wird gegen Ende der Handlung völlig entkräftet zu seiner Ehefrau Goldammer geführt, die ihn in seinen letzten Tagen liebevoll und selbstlos umsorgt.
Ein weiteres Problem stellt sich, weil man den Roman in dieser Fassung nicht mehr ausschliesslich als historisches Zeugnis lesen kann. Die englische Fassung Ferguson McAllisters war die Nacherzählung des nicht vollständig überlieferten Originals. Die vorliegende deutsche Version ist aber wiederum eine Nacherzählung. Warum und mit welchen Freiheiten lässt sich nicht abschliessend beurteilen. Der doppelten Nacherzählung wegen, kann man das Buch aber nicht mehr als rein historisches Zeugnis betrachten, womit die zögerliche Argumentation bezüglich “chinesischer Erbauungsliteratur” weiter entkräftet wird.
Eigentlich hätte das Fazit für dieses Buch ganz anders lauten können: Eine historische Obskurität wurde vom ProngPress Verlag ausgegraben und in einer schön aufgemachten und illustrierten Version erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Stattdessen muss es lauten, dass hier die verlegerische Verantwortung ein Stück weit vergessen ging. Es wäre notwendig, dieses Werk in einen (literatur-) historischen Kontext zu setzen. So würde man als Leser*in zumindest erfahren, wie chinesische Erbauungsliteratur gewirkt hat und welche Themen und Motive darin aufgegriffen wurden und könnte das Buch besser in seinem Entstehungskontext situieren. Gerade, wenn wie hier die Moralvorstellungen zwischen Werk und Rezpient*innen dermassen weit auseinander liegen. Viel schlimmer wiegt aber die Tatsache, dass das Buch als “erotischer Roman” ausgewiesen wurde. Ein Buch, dessen Protagonist mordet und vergewaltigt mag vieles sein, mit Erotik hat aber sicherlich keine dieser Ausprägungen auch nur im Geringsten etwas zu tun.
Mein herzlicher Dank gilt Tino Schlench vom Literaturpalast, der mir mit klugen und pendantischen Kommentaren geholfen hat, diesen Text in eine akzeptable Form zu bringen.
Nachtrag und Antwort des Verlegers
In meinen Rezensionen ist es mir wichtig, begründet zu argumentieren. Die Kritik an einem Text soll immer auf nachvollziehbaren Gesichtspunkten fussen, wie ich es hier beim Mitternachtsscholar getan haben. Dieser Blog existiert aber nicht im luftleeren Raum, zu den von mir vorgebrachten Argumenten wird es immer auch Gegenargumente geben. Rolf Bächi, der Verleger von ProngPress, hat mir einige Tage nach Veröffentlichung dieser Rezension eine Nachricht geschrieben, in der er einige solche Gegenargumente vorgebracht hat. Ich habe ihm dann vorgeschlagen, seine Antwort hier zu veröffentlichen, da sie einerseits wichtigen historischen Kontext liefert und andererseits ein valides Gegenargument zu meiner Kritik anbringt. Ich halte weiterhin an den angebrachten Punkten im Ursprungstext fest, glaube aber auch, dass ein Dialog wie dieser für die Literaturkritik ein wichtiges Element ist. Schlussendlich soll und muss sich jede Leser*in ihre Meinung selbst bilden können.
Rolf Bächi, Verleger bei Prong Press:
Wenn Sie sagen, dass Erotik v.a. Sinnlichkeit bedeutet, kann ich Ihnen durchaus zustimmen. Nun handelt es sich bei unserem Buch aber um einen Roman, also Fiktion; und hier sehe ich schon den ersten Unterschied zu Ihrer Einschätzung: Wenn Sie die erotische Literatur von allem Anrüchigen, Fragwürdigen, Zweifelhaften bereinigen möchten, dann würde wohl nicht mehr viel übrig bleiben; denken Sie an den Marquis de Sade, an Georges Bataille, an all die surrealistischen Autoren! Doch nicht nur bei diesen gehören Macht, Gewalt und auch die dunkle Seite zur erotischen Literatur.
Das zweite ist die chinesische Tradition in der Literatur: Das Djing Pin Mei (= Pflaumenblüte in Goldvase) ebenso wie das Rou Pu Tuan (=Fleisch-Matten-Kloss), also die beiden wohl berühmtesten Werke der erotischen Literatur in China sind wahre Sittengemälde – da geht es nicht nur sinnlich oder einvernehmlich zu und her, sondern es kommt zu Übergriffen, Gewalt, Exzess, usw. Eine moderne Variation finden Sie in den Filmen des Japaners Oshima Nagisa (Im Reich der Leidenschaft oder Im Reich der Sinne): Im ersten ermordet ein Liebespaar den Ehemann, um 'freie Bahn' für ihre Leidenschaft zu haben; im zweiten führt die exzessive Beziehung zwischen Abe Sada und Kichizo dazu, dass sie ihn im Liebesakt stranguliert und ihm dann seine Geschlechtsteile abschneidet; der Film beruht übrigens auf einer wahren Begebenheit.)
Doch zurück zu den chinesischen Romanen: Wichtig ist hier auch, dass die liberale und oft sehr freizügige Handlung in einen moralischen Rahmen eingepasst wird: Sowohl im Djing Pin Mei, als auch im Rou Pu Tuan können sich die männlichen Protagonisten ausleben, doch am Ende ereilt sie das moralische (und sehr stark vom Konfuzianismus) geprägte Schicksal und sie sterben oder serbeln dahin … Auf die 'sündhafte' Lebensweise folgt also die Strafe; 'Sieger' in diesem Sinne sind dann immer die moralisch handelnden Ehegattinnen, welche ihre 'Rüpel-Männer' überleben und ein ethisch unanfechtbares Leben führen. Der Mitternachts-Scholar ist genau nach diesem Schema aufgebaut – mit allen Folgen und Konsequenzen. Der Verlag Die Waage hat ja unter ihrem verstorbenen Verleger Felix M. Wiesner etliche dieser Bücher ab den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts heraus gegeben; diese waren in der Regel als 'erotisch-moralische' Romane gekennzeichnet – eine eher kuriose Umschreibung; andere Verlage haben solche Bücher als 'Sittenromane' heraus gegeben; dies ein Terminus, der heute ziemlich veraltet daherkommt und teilweise wohl gar nicht mehr verstanden wird; darum finde ich die Bezeichnung 'erotischer Roman' für unseren Mitternachts-Scholaren eigentlich ohne Abstriche treffend.
Shi Dong-Shan: Der Mitternachts-Scholar.
Deutsche Nacherzählung von Ah Fu.
Basierend auf der englischen Nacherzählung von Ferguson McAllister.
Originalveröffentlichung um 1780 als Privatdruck.
Mit Illustrationen von Katja Möltgen.
314 Seiten.
Prong Press.
Webseite zum BuchZum Buch: Klappbroschur · Klebebindung
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