Die Hyazinthenstimme von Daria Wilke
Nick Lüthi
Irgendwo in der Steiermark steht ein Schloss. Mitten in einem Laubwald. Bevölkert wird dieses Schloss fast ausschliesslich von Knaben und Männern. Regiert wird das von den Bewohnern Haus Settecento genannte Schloss, von einem rothaarigen Zaren. Getreu dem Namen des Hauses, lässt der Zar darin den Barock wiederaufleben. Mitsamt all seinen Traditionen. Auch den grausamsten. Fast alle Männer und Jungen des Hauses sind Kastraten und werden im Schloss zu männlichen Sopranisten ausgebildet.
Daria Wilkes deutschsprachiges Debüt fusst auf einem Gedankenspiel. Was wäre, wenn die Tradition der Kastratensänger gar nie aufgegeben worden ist und seit jeher im Versteckten weiter praktiziert wird? Erzählt wird dieses Gedankenspiel subtil und sachte aus zwei Perspektiven. Matteo, der begnadetste Sänger des Hauses, berichtet als Ich-Erzähler von seiner Ausbildung, der Erziehung und den Vorgängen im Schloss. Eine auktoriale Erzählstimme bildet dessen Gegenpart. Die Perspektiven wechseln sich in jedem Kapitel ab und werden auch typographisch konsequent voneinander abgegrenzt. Matteos Schilderungen sind in Serifen-Schrift gesetzt, auktoriale Passagen in serifenfreier Schrift.
Der Kniff, das Geschehen in die Jetztzeit zu verlegen, erlaubt es, einerseits weiterhin historische Bezüge zum Barock, seien es die Opern oder die berühmten Sänger, zu machen, andererseits wird die Tradition des Barocks so immer wieder reflektiert und gespiegelt. Wilke hat äusserst gründlich recherchiert und knüpft breite Bezüge in den Barock und die historische Tradition der Kastratensänger, die ursprünglich schlicht als “Musico” bezeichnet wurden. Bereits der erste Satz beginnt mit einer Auflistung berühmter Sänger der Epoche. Und da der Barock hier ja im wortwörtlichen Sinne aus der Zeit gefallen ist, wird der Kontrast zwischen barocker Tradition und dem modernen Leben ausserhalb des Schlosses besonders hervorgehoben. Diese Spannung zwischen Tradition und Moderne wird im Roman umgemünzt und ermöglicht der Geschichte eine weitere Dimension, die die menschliche Psyche in Gefangenschaft und konstanter Überwachung abbildet.
Aus Matteos Augen erleben wir die vielen Gesangsstunden, die hoch und runter gesungenen Etüden, der ständige Kampf mit dem Tier, so nennt Matteo seine Stimme, und erleben dadurch auch, wie geschickt der Zar die Bewohner des Hauses manipuliert. Mit dem Zaren hat Wilke das Ebenbild der grauenhaftesten aller denkbaren Diktatoren geschaffen, den sanftmütigen, vermeintliche Freiheit offerierenden. Die Bewohner des Hauses Settecento gelangen meist im jungen Knabenalter ins Schloss, werden von ihren Eltern an den Zaren verkauft oder von einem Schlepper irgendwie sonst wo aufgetrieben. Grundsätzlich sind sie frei, der Zar erlaubt es ihnen, das Schloss jederzeit zu verlassen, sollten sie dies denn wollen. Auch die Operation, also die Kastration, vorgenommen von einem ehemaligen Chirurgen, erfolgt auf “freiwilliger” Basis. Jeder Knabe muss selbst erklären, dass er die Operation wünsche. Es ist natürlich klar, dass diese Freiwilligkeit keine echte Freiheit ist. Es ist ein besonders perfides Machtspiel des Zaren, welcher es versteht, im Schloss eine konstante Atmosphäre der Bedrohung zu schaffen. Er verfolgt die jungen Männer mit seinen eisblauen Augen bis in ihre Träume.
Die Sprache des Romanes hat vielfach einen sachlichen, direkten Charakter. Stellenweise auch etwas Unterkühltes. Erstaunlicherweise gelingt es aber auch, das Pompöse und Überbordende des Barocks wiederaufleben zu lassen, besonders wenn es um die Musik (oder um Wien) geht. Die Musik ist die vereinende Kraft zwischen den Figuren und nur hier verlässt die Sprache ihren sachlichen Unterton. Bedingt durch die beiden Erzähler, muss man dem Roman vorhalten, dass er vielleicht etwas lang ist. Gelegentliche Längen werden aber durch die zentralen Motive mehr als wieder wett gemacht. Sprachlich überzeugt der Roman, weil es Daria Wilke gelingt, in den jeweils passenden Tonalitäten aufzuspielen.
Die Hyazinthenstimme erzählt von einer grausamen Tradition, nicht historisch, sondern ausserhalb der Zeit. Der Roman schwankt dabei zwischen den pompösen-hochherrschaftlichen Traditionen und der unterkühlt-grausamen Moderne, vereint durch eine gelungene und geschickte Konstruktion und der Liebe zur Musik. Bei aller Grausamkeit, die Stimme Matteos möchte man nach dem Lesen dieses Buches unbedingt hören. Denn, das ist der grosse Gegensatz dieser Tradition, Grausamkeit und Schönheit. Sie stehen äusserst nah beieinander.
Zum Buch: geprägter Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (lila) · Klebebindung
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