Andrew in Drag – Dragman von Steven Appleby
Übersetzt aus dem Englischen von Ruth Keen
Nick Lüthi
Superhelden sind alle gleich: Mit Superkräften ausgestattet hüpfen sie in Spandex durch die Welt und retten, was noch zu retten ist. Durch ihre Macht wurden sie schon lange korrumpiert, wurden zu Machos, zu zynischen Werbehelden. Einzig Dragman entspricht nicht diesem Bild.
Songzeile aus The Magnetic Fields: Andrew in Drag, 2012.
The only girl I'll ever love is Andrew in drag
Die Liebe hatte schon immer einen speziellen Platz im Werk der Magnetic Fields (sagts und hört 69 Love Songs in Dauerschleife). Was Sänger und Texter Stephin Merritt im Song «Andrew in Drag» 2012 heraufbeschwört, gleicht prototypisch der besonderen Stellung, die Dragman im Superhelden-Kosmos einnimmt: Drag als Mittel zur Verwandlung und hier wie dort, als Instrument, welches seine Träger mit beinahe magischen Fähigkeiten ausstattet. Im Song wird dessen Träger zum einzig möglichen Liebessubjekt, in Steven Applebys Graphic Novel wird August Crimp zum Superhelden.
Doch eigentlich haben diese magischen Möglichkeiten im Leben des August Crimp kaum mehr einen Platz. Wir treffen ihn als abtrünnigen, der mit dem Superheldenleben nichts mehr zu tun haben will, nur noch ab und an Drag trägt und auch seiner Frau davon nichts erzählt. Erst in Rückblenden erfahren wir von Dragmans Werdegang: Nach Entdeckung der Superkraft und der Rettung eines Menschenlebens, wurde Crimp teil der Allianz der Superhelden, Einlass wurde ihm aber nur widerwillig gewählt. Denn, man mag es schon fast vermutet haben, auch Superhelden spiegeln die Aversionen und Vorurteile der Gesellschaft. Das ruhige, draglose Leben Crimps kommt aber ins Wanken, als aus Crimps früherer Drag-Heimat, einem Club, immer wieder Gäste verschwinden. Aus persönlicher Betroffenheit und auf Drängeln seiner früheren Superheldenpartnerin Dog-Girl, nehmen die beiden die Nachverfolgung dieser verschwundenen Frauen auf.
In der Folge entspinnt sich eine rasante Erzählung. In einer Melange aus Erinnerungen an die ursprüngliche Superheldenzeit und den aktuellen Ermittlungen, die im Verborgenen und neben Crimps normalem, ehelichem Leben ablaufen müssen, ermitteln die beiden und machen sich auf die Suche nach den Bösen. Applebys Superhelden-Kosmos ist dabei durchgängig als zynisch und ultrakapitalistisch zu lesen: Superheldentaten dürfen nur mit entsprechender Lizenz erbracht werden, gerettet wird nur, wer über eine Superheldenversicherung verfügt. Die Superhelden sind korrupt, wichtig ist ihnen nur das Image und das Geld. Dragman reiht sich damit in die schon länger existierenden, mittlerweile aber durch Verfilmungen auch einem breiteren Publikum bekannt gewordenen Superheldenreihen ausserhalb der DC und Marvel-Universen ein, die kritisch auf Superhelden blicken: The Boys, Invincible, Jupiter’s Legacy.
Trotzdem sondert sich der Band von dieser Einreihung bewusst ab, zum einen durch die Optik, die in den drei genannten Reihen noch der klassischen Superheldencomic entsprechen, ist Applebys Zeichenstil eher karikaturistisch. Rasche, ausdrucksvolle Striche und viele kleine Bilder erzählen die anspruchsvolle Geschichte. Zum anderen sticht Dragman auch thematisch heraus. Weder mit Zeigefinger noch mit einer moralisierenden Botschaft, werden die alltäglichen Konflikte, die die Vorlieben von August Crimp mit sich bringen, thematisiert und in einen grösseren gesellschaftlichen Kontext gestellt. Das nahe Umfeld reagiert verständnisvoll, unterstützend, trotzdem ist der Held von Selbstzweifeln zerfressen, zweifelt immer wieder an seinem Können, seiner Rolle, seinen Aufgaben. Wie sollte es auch anders sein, gerade in der Allianz der Superhelden ist Dragman kein gerne gesehener Gast, alle finden dieses Drag-Ding etwas komisch und nun mal auch unwürdig für einen Superhelden.
Gerade dieser Zwist macht aber die erzählerische Kraft dieser Graphic Novel aus. Genau wie Andrew, der in Drag magische Kräfte entfaltet, wird die vermeintliche Schwäche, oder die zumindest sozial kaum akzeptierte Ausprägung von Crimp, zu seiner Stärke. Nur die bedingungslose Selbstakzeptanz dieses eigenen Persönlichkeitsmerkmals erlaubt es, als Superheld zu agieren und die Welt zu retten. Und Superhelden wollen ja nichts anderes, da ist auch Dragman nicht davon ausgenommen.
Steven Appleby gelingt mit Dragman, was eigentlich unmöglich scheint. Dragman kann als reiner, anspruchsvoller und guter Superhelden-Comic gelesen werden. Als queere Antwort auf das Genre. Als Allegorie auf die moderne Gesellschaft. Als Detektivgeschichte. Als Liebesgeschichte. Und sollte man sich nur auf eine Lesart konzentrieren wollen: Man würde nicht enttäuscht werden. Appleby gelingt es aber, all dieses Ebenen, diese Wahrnehmungsmuster und Erzählstränge in ein kohärentes Ganzes zu vermengen. Dieser Band ist komplex, vielschichtig, durchzogen von feinem, subtilem Humor. Schlichtweg ausgesprochen gut. Ein wundervolles Buch!
Songzeile aus The Magnetic Fields: Andrew in Drag, 2012.
I'll pine away forevermore for Andrew in drag
Steven Appleby: Dragman.
Aus dem Englischen von Ruth Keen.
Originalveröffentlichung 2020.
336 Seiten.
Schaltzeit.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Karton) · bedrucktes Vorsatzpapier (Grafik) · Lesebändchen (rot) · durchgehend farbig · fadengeheftet
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