Eisbären von Marie Luise Kaschnitz und Karen Minden
Nick Lüthi
Das Zwiegespräch eines Ehepaares. Der Mann kommt spät nach Hause, er will reden. Licht solle sie aber nicht machen, sagt er seiner Frau. Im Dunkeln beginnt er, es geht um den Tag, als sich die beiden kennengelernt haben. Damals im Zoo, am Eisbärengehege. Er vermutet, dass sie damals auf einen anderen gewartet hat und will es nun genau wissen. Seine Frau antwortet erst zögerlich, bald entsteht aber ein tiefes Gespräch über ihre Ehe und die Liebe zwischen ihnen, durchzogen von Erinnerungen an dieses erste Treffen und die folgenden Jahre.
Die Erzählung von Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) ist erstmals 1966 erschienen, als Teil des Erzählbandes Ferngespräche (Rezension des Spiegels von 1966 zum Erzählband). Der vorliegende Band enthält mit Eisbären eines dieser Ferngespräche in veredelter Form. Zusammen mit den Illustrationen und der Buchgestaltung von Karen Minden ist Eisbären nicht mehr “nur” eine Erzählung. Das hier präsentierte Buch ist ein Gesamtkunstwerk. Gleichberechtigt stehen Text und Bild nebeneinander und reichen sich die Hand.
Es fällt besonders auf, dass Karen Minden nicht nur für die Illustrationen verantwortlich zeichnet, sondern auch für die Buchgestaltung. Die Gestaltung tritt in dieser Version deutlich zutage und steuert zu wesentlichen Teilen die Wirkung der Erzählung. Ganz bewusst werden bestimmte Absätze neben die Illustrationen gelegt. Manchmal sind es sogar nur einzelne Sätze, die ausgesiebt werden, um ihre Wirkung zu verstärken. Der Fluss der ursprünglichen Erzählung verändert sich dadurch stark, nicht mehr der Text bestimmt Tempo und Rhythmus beim Lesen, Illustration und Buchgestaltung übernehmen diese Aufgabe. Bild und Text treten in einen Dialog, verwirren sich so, dass sie nicht mehr voneinander losgelöst betrachtet werden können.
Die Bleistiftzeichnungen von Karen Minden kommen in Grautönen daher, was natürlich dem Ausgangsmaterial geschuldet ist. Einzig blau wird zur Kolorierung einzelner Passagen verwendet. Diese Zeichnungen sind sehr fein, stehen wiederum in Kontrast zum breitschultrigen Ehepaar, welches durch die eigene Vergangenheit spaziert. Nur zu Beginn und zum Ende greifen die Illustrationen die Gegenwart der Erzählung motivisch auf. Ansonsten folgen sie konsequent der Erinnerung, illustrieren, was das Paar einst geeint, aber auch, was sie schon von Anfang an auseinandertrieb. Und mit diesem Gegensatz von Text und Bild, wird noch einmal der Anspruch dieses Werkes unterstrichen, erweitert und veredelt es doch das Ursprungsmaterial.
Marie Luise Kaschnitz arbeitet mit schlichter Sprache und fokussiert auf den innnerehelichen Konflikt des Ehepaares. Genauso fein wie die Bleistiftzeichnungen Mindens, werden Missverständnisse erörtert und vordergründig geklärt. Die Erzählung ist von der Erinnerung durchzogen, verhandelt wird, was war, um bestimmen zu können, was sein wird. Denn der Kosename “Eisbär” war eigentlich keiner, es war “ein Verdacht”. Beeindruckend ist auch die Dichte dieser Erzählung. Mit wenigen Worten kreiert Kaschnitz einen Konflikt um ein schönes Leitmotiv, webt dahinter aber feine Fäden, die sich um den Kopf der zentralen Figur schlingen und im Dunklen ihre Arbeit verrichten.
Die ursprüngliche Erzählung von Marie Luise Kaschnitz ist bereits ein eindrückliches Stück Literatur. Durch Bild- und Gestaltungsebene eröffnen sich aber in Karen Mindens Version neue Deutungsmuster. Der Eisbär als zentrales Motiv erhält ein plötzliches Eigenleben, ist genauso Figur wie Mann und Frau es sind. Die Hoffnungen und Gedanken des Eisbären werden plastisch erlebbar, der Drang nach Freiheit ist gross. Und genau das ist es, was dieses Buch so grossartig macht. Durch das Bild erhält der Text neue Ebenen und Figuren und durch den Text erwachen die Illustrationen zum Leben, drängen hinaus in diese grosse Freiheit. Eine, nach der sich die Eisbären im Zoo und anderswo immer sehnen werden.
Karen Minden, Marie Luise Kaschnitz: Eisbären.
Illustriert von Karen Minden.
Erzählung von Marie Luise Kaschnitz.
Originalveröffentlichung 1966 (Erzählung).
64 Seiten.
Kunstanstifter.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Karton) · bedrucktes Vorsatzpapier (Illustration) · fadengeheftet
Mehr über die Bücher der Kunstanstifter Verlag:
Der 2006 gegründete und in Mannheim ansässige Kunstanstifter Verlag macht Bilderbücher für Erwachsene und Kinder. Im Zentrum steht dabei immer auch die Qualität der Illustration.
We are a troop of monkeys.
Thanks for reading us.