Klassiker: Aus Franzensbad/ Das Gemeindekind von Marie von Ebner-Eschenbach
Nick Lüthi
Die Klassikerbesprechungen auf BookGazette folgen alle dem gleichen Muster: Als Klassiker gilt, was über 50 Jahre alt ist und als herausragendes Werk betrachtet wird, sei dies nun in einem spezifischen Genre oder im Allgemeinen. Einerseits werden in einer solchen Besprechung meine Leseeindrücke geteilt und dabei auch, wie es ist, als moderner Leser sich diesen Stoffen zu widmen. Andererseits wird hier auch immer eine konkrete Ausgabe und Edition eines Klassikers besprochen, wenn man sie also nicht lesen mag, kann man sie sich wenigstens in schöner Ausführung ins Regal stellen.
Heutiger Klassiker und Auftakt zu einer Serie bildet die Leseausgabe von Marie von Ebner-Eschenbach, erschienen 2015 im Residenz Verlag. In vier schmucken Leinenbänden werden jeweils zwei Werke Ebner-Eschenbachs zusammengefasst. Konzept der Reihe ist es dabei, ein jeweils bekanntes mit einem weniger bekannten Werk zu kontrastieren, welches sich aber im selben Themenkreis bewegt. Jede Ausgabe enthält ausserdem einen Kommentar der Herausgeberinnen. Die Gesamtausgabe mit allen vier Bänden ist leider nicht mehr erhältlich, der hier vorgestellte erste Band, sowie der dritte Band, welcher “Bozena” und “Der Vorzugsschüler” vereint, sind als Einzelausgaben weiterhin erhältlich.
In diesem ersten Band der Leseausgabe werden zwei sehr unterschiedliche Werke Ebner-Eschenbachs vereint. “Das Gemeindekind” war ihr grösster literarischer Erfolg, während das anonym veröffentlichte Erstlingswerk “Aus Franzensbad” von der Autorin selbst am liebsten vergessen werden wollte. Wie im einläutenden Kommentar erläutert wird, vereint die beiden Werke, dass sie sich um Ebner-Eschenbachs eigenen Stand drehen (zumindest teilweise), den Adel.
“Aus Franzensbad” ist ein Briefroman, in welchem eine adelige Schriftstellerin zur Kur nach Franzensbad muss. Von dort schreibt sie Briefe an ihren Arzt, der späteren Veröffentlichung willen. Gemeinhin muss man das Urteil der Autorin über ihr eigenes Werk teilen, viel hängen bleibt hier nicht. Entscheidend ist aber natürlich nicht der Inhalt, sondern die Erzählweise. Auf höchst satirische Weise werden hier, in verschiedensten Textgattungen, die adelige Schriftstellerin ist da in ihren Briefen äusserst gestaltungsfreudig, die Eigenheiten eines Standes seziert. Mehr ist das dann aber auch nicht.
Der Briefroman mag aus der Sicht auf das Gesamtwerk der Marie von Ebner-Eschenbach interessant und lesenswert sein, aus rein unterhaltungstechnischer Sicht, lässt dies aber einen eher kalt. Guten Gewissens darf man sich also dem Gemeindekind zuwenden.
Mit dem Roman “Das Gemeindekind” teile ich eine tiefe innere Verbundenheit. Zuletzt habe ich den Roman vor gut 10 Jahren, während meines Militärdienstes gelesen. Selten hatte mich eine Geschichte so tief berührt. Das zerfledderte Reclam-Heft in der Brusttasche, um jede Möglichkeit zum Weiterlesen zu ergreifen. Lange habe ich mich davor bewahrt “Das Gemeindekind” erneut zu lesen. Zu gross die Angst, durch erneute Lektüre die ursprüngliche Faszination und Verbundenheit mit diesem Roman zu verlieren.
In “Das Gemeindekind” wird die Geschichte von Pavel erzählt. Als Pavels Vater zum Tode verurteilt und seine Mutter für zehn Jahre ins Gefängnis gesperrt wird, werden er und seine Schwester zu Gemeindekindern. Die Schwester wird relativ zügig bei der Baronin untergebracht, nur Pavel will niemand. Die Bauern weigern sich sogar, ihn auch nur eine Nacht als Wanderarbeiter zu beherbergen. Schlussendlich wird Pavel beim Hirten Virgil und seiner Familie untergebracht, den unrühmlichsten Menschen der Gemeinde. Unrühmlicher ist einzig Pavel.
Die Sprengkraft dieses Romans liegt nicht in seiner Geschichte allein. Vermutlich liegt es viel eher in der Vielfalt und Tiefe dieses Unrechts, welches Pavel widerfährt und seinem stetigen Kampf dagegen. Man kann “Das Gemeindekind” als Roman über unsere Behandlung von Fremden lesen. Man kann es aber auch als Geschichte eines inneren Kampfes sehen. Oder auch einen Kampf gegen alle Widerstände, komme was wolle. Man kann es auch als Allegorie auf die Reichweite eines Vorurteiles lesen. Oder als Coming-of-Age Roman. Als Selbstfindung, wenn alle schon wissen wie du zu sein hast. Oder ganz einfach als die Geschichte eines jungen Menschen, der nirgends hingehört und nirgends gewollt wird.
Faszinierend ist, wie Ebner-Eschenbach die Geschichte mit einer schon fast boshaften Klar- und Nüchternheit nachzeichnet. Dieser Pavel läuft ins Messer, nachdem man ihm schon gesagt hat, er müsse und werde ins Messer laufen. Von allen Seiten unterschätzt und vorverurteilt, kämpft er lange nicht gegen sein Schicksal an. Fast schon wie der misshandelte Krambambuli fügt sich Pavel in das bestehende Machtgefüge und folgt treu seinem Herrn. Erst durch Fürbitte seiner Schwester ändert sich Pavel, mit der inneren Änderung folgt auch eine äussere. Die Geschichte vom Gemeindekind ist aber kein Märchen, zu Ende wird nicht alles gut. Aber Veränderung folgt auf den Kampf. Die Eindringlichkeit, die sich hier aus der Sprache heraus entwickelt bleibt unerreicht.
Was soll ich sagen, “Das Gemeindekind” berührt mich noch immer so sehr, wie als ichs zum ersten Mal gelesen hab. Man kann ja gar nicht genug Marie von Ebner-Eschenbach lesen und in dieses Nicht-Genug gehört “Das Gemeindekind” an vorderste Stelle. Die vorliegende Leseausgabe ist eine ausgezeichnet edierte Fassung im schmucken Einband und (etwas zu) schwerem Papier.
Marie von Ebner-Eschenbach: Aus Franzensbad/ Das Gemeindekind.
Herausgegeben von Evelyn Polt-Heinzl, Daniela Strigl und Ulrike Tanzer.
Mit einem Kommentar von Evelyn Polt-Heinzl.
Erstveröffentlichung 1858 und 1881. Neuveröffentlichung 2015.
352 Seiten.
Residenz Verlag.
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