Die Schallwellen des Urteils
Gentzen oder: Betrunken aufräumen von Dietmar Dath
Nick Lüthi
Gerhard Gentzen isst nicht, was bedauerlich ist. Ausgehend von Gentzens Gefangenschaft, entspannt Dietmar Dath in seinem neuesten Roman ein Kalkül an Sammlungen und Verwebungen, die sich zu einem aufgeräumten Ganzen formieren (eine Lüge).
Gentzen hatten wir schon, der isst weiterhin nicht. Es wird nicht lange dauern und er wird sterben. Edsger W. Dijkstra wird als Schutzpatron vorkommen, Lady Gaga als Konversationspartnerin Gentzens, Dietmar Dath als Journalist. Und als Autor, der den Band über Gerhard Gentzen, den er schon lange schreiben will, gerade schreibt, oder zu schreiben versucht. Cordula Späth wird durch die Nacht tanzen, Rima Abadi wird an der Brezeltheke stehen, Constance Griffith wird die Menschen über Algorithmen unterrichten und Frank Schirrmacher wird sterben. Und die anderen 40 zentralen Figuren haben wir jetzt noch unterschlagen.
Dietmar Daths neuester Roman hat wenig mit der klassischen Form seiner Gattung gemein. Erwartungshaltungen sind von vornherein fehl am Platz, jede einzelne wird enttäuscht, übertroffen, entkräftet werden, weil sich der Roman schon alleine durch seine Form dem allen entzieht. Vermengt werden Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart. Textformen wechseln sich ab, von der Science Fiction bis zum Zeitungsartikel hat alles seinen Platz. Das macht das Lesen vordergründig sicherlich nicht einfach. Aber soll es das?
Auf dem Cover steht denn auch, dass man es hier mit einem «Kalkülroman» zu tun habe. Klingt gut. Aber was bedeutet das? Kurzes Googeln. «Als der oder das Kalkül versteht man in den formalen Wissenschaften wie Logik und Mathematik ein formales System von Regeln, mit denen sich aus gegebenen Aussagen (Axiomen) weitere Aussagen ableiten lassen«, weiss Wikipedia. Nehmen wir diese Bezeichnung einmal beim Wort. Ein Kalkülroman müsste dementsprechend Axiome bilden, also Aussagen machen, aus denen sich weitere Aussagen logisch (also deduktiv) ableiten lassen. Macht das nicht jeder Roman, der eine Geschichte erzählt? Aus dem ersten Treffen lässt sich der erste Kuss, Sex, Streit, Beziehung, Verlust, Mord ableiten. Aber gerade diese Stringenz der Handlung fehlt in «Gentzen oder: Betrunken aufräumen«.
Die verschiedenen Stränge der Geschichte haben vorerst wenig miteinander zu tun und werden bis zum Schluss nie komplett zusammengeführt, sind somit höchstens durch Indizien zueinander in Bezug zu setzen (also induktiv, nicht deduktiv). Formal können die Axiome auch nicht sein, die Sprache ist weder formalisiert, noch eindeutig. Dath erzählt – wie immer – mit unbändiger Erzählwut, wechselt vom Hundertsten ins Tausendste, von 1926 zu 2035, über die Jahrhunderte hinweg, in seiner unverwechselbaren, verschnörkelt-geradlinigen Sprache. Trotzdem verliert man nie den Überblick, und vielleicht findet sich genau darin die formale Strenge, nach der ein Kalkül eigentlich verlangt. Fast jedes Kapitel wird mit einer Jahrzahl eingeführt und einer kurzen Bemerkung über das Datum, das Wetter oder andere Nebensächlichkeiten. Stets bleibt dadurch der Überblick (sofern es den geben kann) gewahrt.
Das mag die Axiome erklären, aber noch nicht die weiteren Aussagen, die aus ihnen folgen sollten. Aber da hilft die Handlung wieder auf die Sprünge, Gentzen, der zumindest titelgebend ist, stirbt. Das wird bereits mit dem ersten Satz («Er isst nicht genug.») klar, konsequenterweise kann auf dieses Verhalten nur der Tod folgen. Die Kausalverknüpfungen lassen sich an dieser Handlung weiterspinnen. Axiom folgt auf Axiom. Vielleicht gibt es also keine Axiome, sondern nur ein Axiom, aus dem im Kalkül alle weiteren folgen müssen. Oder vielleicht ist das auch alles nur Quatsch und Gentzen ist gestorben und Dietmar Dath rätselt in Romanform ebenso über diesen Umstand, wie wir es als Lesende des Romans tun.
Wenn Sie mich nächste Woche an der Frankfurter Buchmesse fragen werden, worum es jetzt in diesem Roman also gehe, ich werde ihnen schulterzuckend antworten müssen. Um alles, um Nichts, um das Leben. Um einen deutschen Logiker und Mathematiker, um die Axiome, die zur Erfassung der Realität notwendig sind. Um Dietmar Dath. Um die FAZ. Um Schmetterlinge in der Zukunft. Um hungrige Menschen in Gefangenschaft, um autofahrende Freunde. Kurzum: Weder kann, noch will ich ihnen diese Frage beantworten. Ich würde vielleicht so antworten: «Dietmar Dath hat den formell aufregendsten Roman dieses (und vieler weiterer) Herbstes geschrieben. Eine Aufregung, ein Zauber, der sich nur beim eigenen Lesen erfahren lässt. Meine Nacherzählung dieser ist genauso fehlerbehaftet, wie die Ableitung des im Roman aufgezogenen Kalküls: Das Kalkül als Ganzes lässt sich nur erfahren, wenn man jedem der 140 Axiome Bedenken schenkt. Lohnen tut sich dies aufjedenfall.» Sie werden mich verwirrt anschauen, ich werde die Schultern noch einmal zucken, ihnen eine quadratische Visitenkarte in die Hand drücken, wohlwissend, dass sie sich nicht bei mir melden werden, und weiter durch die Hallen schlendern. Dort werde ich am Stand des Verbrechers Verlags vorbeikommen, Dietmar Dath sehen, der dort seinen wiederaufgelegten Debütroman vorstellt, ihn ganz frech duzen und ihn fragen: «Du, worum geht es in deinem Roman eigentlich?« Wobei, wenn wir die in dieser Besprechung angelegten Axiome befolgen, werde ich dies nicht tun, weil ich die Antwort für mich selbst längst kenne: Darauf kommt es bei guter Literatur nie an.
Dietmar Dath: Gentzen oder: Betrunken aufräumen. Kalkülroman
608 Seiten.
Matthes & Seitz.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Schutzumschlag · farbiger Einband (Karton, scharz) · Lesebändchen (schwarz) · Klebebindung
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