Wurzelstudien – Heimkehr ins Unbekannte von Lina Meruane
Übersetzt aus dem Spanischen von Susanne Lange
Nick Lüthi
Heimat. Verwandschaft. Arabisch. Herkunft. Diaspora. Gesichter. Tanten. Spanisch. Identität. Germany. Zionismus. Onkel. Chile. Englisch. From-From. Und alles mündet in Palästina.
Es beginnt zuerst noch relativ eindeutig mit den Zuordnungen und Verortungen: Lina Meruane ist in Chile aufgewachsen, hat aber palästinensische Wurzeln und wird, im Rahmen dieses Buches, Palästina ein erstes Mal im Leben besuchen. In ihren autobiografischen Aufzeichnungen zimmert sie aber daraus in der Folge ein Vexierspiel, das sich gar nie ganz wird auflösen lassen können. Es geht um Herkunft, Heimat, Identität, den Nahostkonflikt. Ein buntes Mischwerk aus Erinnerung, Überlegung, Augenzeugenbericht und Tagebuch.
Lina Meruanes Zugang zum Thema ist persönlich, zwangsläufig, weil sie diesen Themenkomplex gar nicht anders angehen kann, als persönlich. Zu fest ist ihre Familie damit verwachsen, ihr Leben davon beeinflusst worden. Zum persönlichen Zugang gesellt sich eine Grundehrlichkeit. Die Aufzeichnungen von Meruane sind sehr ehrlich, fassen ihre eigene Widerspenstigkeit zum Thema, ihre Voreingenommenheit, die Zerrissenheit, die komplexen Verwirrungen der Familie über die Jahrzehnte, sie fassen all dies mit ein.
Übertragen hat den Text Susanne Lange, die Meruanes Spanisch in ein schnörkelloses, elegantes Deutsch gebracht hat. Es sind dementsprechend zwei Dinge, die auch in der deutschsprachigen Ausgabe auffallen und die dieses Buch auszeichnen. Es ist einerseits wunderbar unprätentiös, sowohl im Ton wie auch in der Sache unaufgeregt und direkt. Andererseits ist es schlichtweg wahnsinnig klug. Bestehend aus zwei Teilen, die fünf Jahre auseinanderliegen (die Originalausgabe von 2014 bestand nur aus dem ersten Teil, der zweite Teil wurde extra für dieses Buch verfasst), wird gerade im zweiten Teil die Reflexion zum zentralen Merkmal. Meruane bewegt sich da durch die undurchsichtigen Themen, die einem bei einem Israelbesuch entgegenschlagen können, entgegenschlagen müssen. Plötzlich ist das, was für sie, die schon über eine Dekade als Chilenin palästinensischer Herkunft in den USA lebt (wenn man das jetzt unbedingt quantifizieren muss), nie wirklich wichtig war, entscheidend. Die Farbe der eigenen Haut, die Sprache die man spricht, der Lockenwurf der Haare, ob der Pass nun eine rote oder eine blaue Farbe hat, die Stempel in ebjenem Pass, alles ist plötzlich von Bedeutung, steigert sich zur Symbolkraft hinauf.
Meruane reflektiert all das, in der bereits angesprochenen, unaufgeregten Art. Es geht hier ganz klar nicht um Zeigefinger, Recht und Unrecht, Lina Meruane macht es der Leser*in viel schwerer, es wird nur berichtet und gespiegelt, das Material verarbeiten und zusammenführen wird man selbst machen müssen. Und gerade darum ist es so ein kluges Buch, weil es so geschickt mit sich selbst und der in der Autorin bereits angelegten und in den Einträgen herausgearbeiteten Multiperspektivität spielt.
Heimkehr ins Unbekannte erscheint zuerst Unterkomplex, weil auf ruhige, bedachtsame Weise so viel Wahrheit verpackt wird. Es ist aber diesem Buch hoch anzurechnen, dass es seine Welt genau so nimmt, wie sie ist. Also keine künstlichen Vereinfachungen, sondern der Komplexität des eigenen Gegenstandes gerecht werdend. Komplex und undurchsichtig, und sehr wichtig.
Lina Meruane: Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange.
Originalveröffentlichung 2014/2020.
208 Seiten.
Berenberg.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Halbleinen) · farbiges Vorsatzpapier (blau) · fadengeheftet
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Dicke Bücher wird man im Berenberg Verlag nicht finden, ist es doch Leitsatz des 2004 von Petra und Heinrich von Berenberg gegründeten Verlags, gute und kurze Bücher zu veröffentlichen. Mit Fokus auf autobiografischer und biografischer Literatur erscheinen so jährlich bis zu zehn Titel. Immer hochwertig ausgestattet und im unverkennbaren Verlagskleid gestaltet.
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