Der einfachste Umzug der Welt – Im Schrank von Tereza Semotamová
Übersetzt aus dem Tschechischen von Martina Lisa
Nick Lüthi
Als die Schwester der Ich-Erzählerin Hana einen alten Schrank eines schwedischen Möbelherstellers entsorgen will, meldet Hana ihr, sie habe einen Abnehmer für den Schrank gefunden. Dass sie selbst die Abnehmerin ist verschweigt sie. Sie verschweigt auch, dass sie den Schrank in den Hinterhof stellen wird, um darin zu leben. Fortan lebt Hana also im ausgedienten Schrank ihrer Schwester, huscht nachts durch den Keller, damit sie ja niemand sieht, drapiert das Dach des Schrankes mit Plastiksäcken, um Regen vorzubeugen und zur Toilette geht sie im nächsten Lebensmittelladen. Warum Hana genau in den Schrank zieht, bleibt lange Zeit unklar, sie scheint sich selbst nicht immer ganz zu verstehen, was das anbelangt. Am Sonntag trifft sie die Familie, am Telefon steht sie ihren nestbauenden Freundinnen als Ratgeberin und Kopfkissen zur Verfügung, es soll ja niemand merken, dass Hana jetzt in einem Hinterhofschrank lebt.
Ein Roman der mit so einer ungewöhnlichen wie blödsinnigen Idee beginnt, ein solcher Roman kann eigentlich gar nicht enttäuschen. Wer zieht denn in einen Schrank? Wie soll man da Platz haben? Und warum kommt man auf diese absurde Idee? Das In-den-Schrank-Ziehen in Tereza Semotamovás Roman ist aber vorerst kein metaphorisches, sondern ein genau ausgedachtes und durchgespieltes. Natürlich steckt hinter diesem Bild starke allegorische Kraft, die wird aber erst später wirksam. Zunächst ist es einfach die einzig naheliegende Alternative für Hana, vorübergehend in diesem Schrank zu hausen. Auf den Einzug in den Schrank folgen nicht weitere Absurd- und Abstrusitäten, die Geschichte bleibt durchweg realistisch und wandert nicht ins absurde Erzählen ab.
So seltsam wie die Beweggründe der Hauptfigur, so seltsam muten auch Erzählstil und Sprache an. Der Erzählstrang ist fahrig, wechselt von der Gegenwart in die Vergangenheit, vermischt Realität und geträumtes und erklärt sich dabei nicht. Das hat es mir als Leser manchmal schwergemacht, dem roten Faden zu folgen. Der Faden ist da, verlangt aber mitdenken und man muss sich die Zusammenhänge selbst machen. Genauso sprunghaft ist die wunderbare Sprache, die wechselt vom Hundertsten ins Tausendste, reisst kurz poetische Bilder auf, nur um sie dann in der Realität wieder zu zerreissen und im nächsten Nebensatz zu vergessen. Das ist überraschend und sehr gut konstruiert. Dass die Poesie der Sprache so gut funktioniert, liegt auch an der Übersetzung von Martina Lisa. Ab und an vergisst diese poetische Sprache zum Glück auch, dass sie nur in Nebensätzen existiert und gesteht sich einen ganzen Abschnitt zu:
Die ganze Geschichte ist geschickt konstruiert. Erst zum Ende hin wird klar, weshalb Hana jetzt in diesen Schrank gezogen ist. Das komplexe Seelenleben eröffnet sich erst nach und nach. Ab da ist der Schrank auch nicht mehr nur realer Wohnraum. Die Metaphorik um den Schrank wird zur deutungsreichen Spielwiese, ist er doch Zufluchtsort, letzter Ausweg, bewusste Verweigerung, konstanter Erinnerungspunkt und Zeichen von Freiheit zugleich. Getreu dem Motto “Wie man sich bettet, so liegt man”, ist der Schrank des Lesers Deutungsfreiheit unterstellt.
“Im Schrank” hat mir als Leser vieles abverlangt. Diesen Roman liest man nicht einfach schnell mal nebenbei. Für die Mühe wurde ich aber reich belohnt. Schöne Sprachbilder, die oft nur kurz in einem Nebensatz eingeschoben werden vermischen sich mit dem komplexen Seelenleben der Protagonistin. Und ein klein wenig auch mit dem einer ganzen Generation junger Europäer*innen, gut ausgebildet und ziemlich planlos. Gerade am Schluss weiss die Geschichte noch einmal zu überraschen und viele weitere Themen zu verhandeln. Irgendwie möchte ja jeder manchmal einfach in einen Schrank ziehen. Tereza Semotamová nimmt aber diese absurde Ausgangsidee und webt sie gekonnt in eine realistische Erzählung ein, die von der Komplexität des Seelenlebens der Protagonistin und der poetischen Sprache lebt.
Tereza Semotamová: Im Schrank.
Aus dem Tschechischen übertragen von Martina Lisa.
Originalveröffentlichung 2018.
288 Seiten.
Voland & Quist.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Karton) · Klebebindung · farbiges Vorsatzpapier (schwarz) · Lesebändchen (hellrosa)
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