Schreiben vom Unbeschreiblichen – Das bittere Kraut und Ein leeres Haus von Marga Minco
Übersetzt aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas
Nick Lüthi
In den Niederlanden ist Marga Minco jedem Kind bekannt. Im deutschsprachigen Raum hingegen kaum. In Neu- oder Erstübersetzung erscheinen im Arco Verlag dieses Jahr drei Bände. Mehr als Grund genug, genauer auf die Werke der Schriftstellerin zu blicken.
Unverkennbar ist das Leben Marga Mincos mit ihrem Erzählen verknüpft. Als niederländische Jüdin, als Überlebende der Shoah, war Marga Mincos Werk immer auch von ihrer Lebenserfahrung geprägt. In diesem Frühjahr sind der Erzählband Das bittere Kraut sowie der Roman Ein leeres Haus erschienen, die uns hier einen genaueren Einblick in das grosse Werk von Minco geben sollen (bald wird ein dritter Band, der Roman Nachgelassene Tage erscheinen).
Das bittere Kraut
Das bittere Kraut ist ein schmales Büchlein, gefüllt mit kurzen Erzählungen. Passend erscheint der Untertitel, Eine kleine Chronik: chronologisch und prägnant werden die Ereignisse kurz vor der deutschen Besetzung der Niederlande, bis kurz nach deren Befreiung geschildert. Es ist ein Buch über die Banalitäten, mit denen sich die einschneidende Veränderung des Lebens ankündigt. Am prägendsten geschieht dies in der Erzählung Die Sterne.
Auf kaum 3 Seiten erzählt Minco da ein Horrorszenario in seiner alltäglich-grausamen Banalität: Der Vater kommt mit einem Päckchen nach Hause, alle sind aufgeregt. Schnell wird klar, im Päckchen sind die Sterne. Die Judensterne, die sie ab sofort auf der Brust tragen müssen. Lang und erstaunlich neugierig wird dann diskutiert, wie man die Sterne am besten anbringen soll, ob man vorheften muss, welche Farbe der Faden tragen soll, zu welchem Kleidungsstück sie am besten passen werden. Es wird dann herumstolziert mit den angebrachten Sternen, ein «Königinnentag». Nur Dave, der Sonderling, mag den Stern nicht sofort anbringen, möchte noch einen Tag «normal» sein.
Und da, auf diesen drei Seiten, zeigt sich alles, was diesen Erzählband so herausragend macht. Minco schreibt in einfacher Sprache, mit viel direkter Rede, braucht keine Stilisierungen, keine Überhöhungen, sondern erzählt in unverblümter Nüchternheit vom Alltag während den grausamsten aller Zeiten. Aller Nüchternheit zum Trotz, werden die Erzählungen immer wieder auf den kleinsten gemeinsamen Nenner heruntergebrochen, an dem sich wieder zeigt, dass es hier nicht um einen normalen Alltag geht, sondern um einen, der jederzeit zu Ende sein könnte. Minco verknüpft diese kurzen, einprägsamen Erzählungschroniken und knüpft daraus einen langen, zusammengehörigen Erzählteppich, der sich über das ganze Buch legen wird. Der Band ist stilistisch meisterhaft, verkennt aber nie sein Thema und vergisst vor allem nie seine Menschlichkeit. Es atmet, lebt aus diesen Zeilen und es kann keinen guten Grund geben, diesen Band nicht immer und immer wieder zu lesen.
Ein leeres Haus
Der Roman Ein leeres Haus funktioniert ein wenig anders, ist aber umso interessanter, weil er weniger von seiner zeitgeschichtlichen Brisanz überzogen wird, sondern ganz besonders den Blick auf die Kunstfertigkeit der Schriftstellerin Marga Minco freilegt. Drei Tage aus dem Leben von Sepha, einer jungen niederländischen Jüdin, werden im Roman nacherzählt: der 28. Juni 1945, der 25. März 1947 und schlussendlich den 21. April 1950. Wie drei lange Erzählungen lesen sich die Tage, deren Geschehnisse nach und nach ineinander überfliessen und den Blick auf eine komplexe Figur an drei Stationen des Lebens “danach” freilegen.
Minco ist eine Meisterin der Verwebung. Mit Sepha erschafft sie eine komplexe Frauenfigur, die durch eine unbekannte Zukunft strauchelt. Nach der Flucht, dem Grauen, dem sie nur so knapp entkommen ist, erscheint alles Ungewiss und jeder Bereich des Lebens will neu geordnet und erfasst werden. Es erscheint deshalb umso passender, verwebt Marga Minco auch die Zeitebenen. Die Vergangenheit wird direkt in die Gegenwart gelegt, Erinnerung und Gegenwart verwischen sich immer wieder und ohne sprachlich eindeutige Hinführung. In einem Moment lauscht man dieser Ich-Erzählerin und ohne es gross zu bemerken, folgt man ihr im nächsten Moment in ihre Erinnerung, watet durch ein Gedankengewirr aus Jetzigem und Vergangenem. Das alles wird so leicht, so unauffällig in den Text gelegt, man verzeihe mir die Wiederholung, es ist schlichtweg meisterhaft.
Im Roman lassen sich viele Motive ausmachen, es stellen sich grosse Fragen für Sepha. Wie kann man ein Leben weiterleben, nachdem man all dies durchlebt hat? Wie führt man eine Ehe, die in existenzialistischen Zeiten geschlossen wurde und nun nicht mehr funktioniert (funktionieren kann)? Und natürlich, das titelgebende Haus, es steckt wortwörtlich in diesem Roman, steht aber die meiste Zeit leer, aber es ist auch eine Metapher für das, was nun neu bebaut werden muss. Die Freundschaften. Die Ziele. Die Schuldgefühle. Das Leben. Alles leere Häuser, die nach neuem Leben, neuen Bewohnern suchen. Marga Minco gelingt es auch in Ein leeres Haus, unscheinbar und durchdringend zu erzählen, sodass man lange nicht merkt, wie es um die Figuren steht, wie tief greifend das alles hier ist. Sie setzt dem Grauen eine scheinbar nüchterne Leichtigkeit entgegen, die erst tief in ihren Strukturen aufzeigt, wie verwoben alles ist und wie sehr sich alles gegenseitig beeinflusst.
Mincos Prosa glänzt nicht durch sprachliche Extravaganz, sondern durch diese Gesamtkomposition, in der sich schlussendlich alle Bezüge verflechten. Die Übersetzerin aller drei Bände, Marlene Müller-Haas, hat Mincos Sprache diese direkte und rohe Form ebenso gelassen, wie deren Einfachheit. Dadurch bekommt der Text stellenweise zwar etwas leicht Stockendes, die kurzen, einfachen Sätze machen dann zum Teil grosse Sprünge, aber die Sprache passt eben zu der Art wie hier erzählt wird. Es ist Müller-Haas hoch anzurechnen, hier nicht künstlich eingegriffen zu haben und die Sprache in dieser direkten, rohen Form übersetzt zu haben. Als einziger Wermutstropfen dieser Ausgaben sind die fehlenden Nachworte zu beklagen, gerade weil diese zu solchen, auch zeitgeschichtlich wichtigen, Werken, wichtigen Kontext hätten liefern können und auch, weil der Arco Verlag (der übrigens viele weitere spannende, herausragende, vergessene Werke in seinem Programm bereithält) dies ansonsten konsequent macht.
Es ist grosse Literatur, die sich hinter diesen Buchdeckeln in unscheinbaren Farbtönen verbirgt! Nicht zuletzt ist es auch äusserst lesenswerte Literatur, die jetzt in neuer Übersetzung und schönen Ausgaben erscheint. Sie wissen ja was zu tun ist, in einem solchen Falle.
Marga Minco: Ein leeres Haus.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas.
Originalveröffentlichung 1966.
172 Seiten.
Arco.
Webseite zum Buch Zum Buch:
bedruckter Einband (Karton) · farbiger Vorsatz (hellblau) · Lesebändchen (blau) · fadengeheftet
Marga Minco: Das bittere Kraut. Eine kleine Chronik.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas.
Originalveröffentlichung 1957.
96 Seiten.
Arco.
Website zum Buch Zum Buch:
bedruckter Einband (Karton) · farbiger Vorsatz (hellblau) · Lesebändchen (braun) · fadengeheftet
Zum Verlag:
Benannt nach einem Prager Café, verlegt der Arco Verlag seit 2002 aus Wien und Wuppertal Bücher. Schwerpunkte des Verlages sind einerseits wissenschaftliche Werke, andererseits literarische Werke aus den böhmischen Ländern.
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