Destillierte Science-Fiction – Micro Science Fiction von O. Westin
Übersetzt aus dem Englischen von Birte Mühlhoff
Nick Lüthi
Diesen Juni erschien im mikrotext Verlag das gleiche Werk in zwei verschiedenen Fassungen. Einmal auf Englisch, einmal auf Deutsch. Original und Übersetzung. Damit verfolgt der Verlag eine ungewöhnliche Veröffentlichungspolitik, verschiedene Sprachversionen sind meist an unterschiedliche Verlage gebunden. Damit ein solches Unterfangen überhaupt Sinn ergeben kann, braucht es den Vertriebsweg via Internet, einerseits in digitaler Form auf der eigenen Website und einschlägigen Plattformen und andererseits in gedruckter Form, über den Giganten Amazon. Mit Micro Science Fiction von O. Westin setzt der mikrotext Verlag das eigene Verlagsmotto digital first konsequent um.
Es ist aber nicht nur der Vertriebsweg, der das Verlagsmotto umsetzt, auch der Inhalt des Werkes selbst folgt diesem. O. Westin ist das Pseudonym eines englischen IT-Spezialisten, der unter dem Namen Micro Science Fiction einen Twitteraccount betreibt und dort ausschliesslich Science Fiction Stories veröffentlicht. Der vorliegende Band versammelt nun einige der mittlerweile über 3000 Geschichten, die über den Account veröffentlicht wurden. Auch der Inhalt folgt ganz dem Motto, zuallererst einmal digital zu sein.
Viel spannender als die Form der Geschichten sind aber natürlich die Geschichten selbst. Westins Geschichten sind äusserst faszinierend. Gelingt es ihnen doch, innerhalb von meist 140 Zeichen, alle Elemente einer guten Geschichte zu vereinen. Welten werden geschaffen, Handelnde tun sich hervor, Plotpunkte erscheinen, Konflikte und deren Lösungen machen sich breit. Das dies innerhalb der rigiden Zeichenvorgabe eines Tweets gelingt, ist doch überaus erstaunlich. Westins Geschichten sind Stilstudien was mit Kürzungen, Unausgesprochenem und Weggelassenem alles möglich ist in der Literatur. Sie müssen es ja sein.
Stellenweise erinnert das an einen Gedichtband. Oft muss der Mikrokosmos der Geschichte erst entschlüsselt werden, was nur durch wiederholtes Lesen in seiner vollen Breite möglich ist. Westin bemüht für seine Kurzgeschichten konsequent Elemente der Science Fiction, verdichtet diese aber und erteilt ihnen poetische Wirkmacht. Die hier auf Deutsch und Englisch aufgeführte Geschichte zur Botschaft der Sterne vereint die meisten Elemente dieser Wirkmacht. Bestehende Erfahrungen oder Erwartungen werden juxtaposiert, es gibt einen Plot-Twist, viele Rätsel tun sich auf und gleichzeitig kommt das in glasklarer und raffinierter Sprache daher.
Nicht bei jeder der über 180 Geschichten gelingt dies gleich gut. Das ist schon alleine durch die schiere Anzahl nicht möglich. Bei den meisten aber, zaubert Westin Phantasiewelten mit wenigen Worten und vielen Auslassungen in denen Aliens Botschaften hinterlassen, sich Personal Trainer dem eigenen Körper annehmen während man in der Cloud Ferien macht oder Zeitreisende Shakespeare besuchen. Damit machen die Geschichten wieder, was gute Science Fiction immer macht, sie halten der Realität einen Spiegel vor und kommentieren das Zeitgeschehen.
Die deutsche Übersetzung von Birthe Mühlhoff sitzt gut, lässt aber manchmal die sprachliche Finesse und die Eleganz der Originale vermissen. Das hat zwei Gründe, erstens leben Westins Geschichten von ihrer Kürze. Ein Grossteil der ihnen eigenen Schlichtheit und Eleganz ist auch deren Kürze geschuldet. Die deutsche Übersetzung braucht zwangsläufig mehr Zeichen als das Original und verliert alleine dadurch ein gewisses Mass an Schlichtheit und Kürze. Gerade weil das Original aus so wenigen Worten besteht, kann der typische Kompromiss der Übersetzung zwischen Genauigkeit und sinngemässer Übersetzung nicht wirklich kompensiert werden. Wenn etwa der “ruler” zum “Bestimmer” wird, ist das zwar genau, die Bedeutung und Ambiguität des Begriffes geht aber verloren, und damit auch ein wenig der Witz der Geschichte.
Auch der zweite Grund hat mit der deutschen Sprache und ihren Eigenheiten zu tun. Dem Deutschen fehlt schlicht das Vokabular für Science-Fiction Literatur. Was wiederum bedeutet, dass Anglizismen und bemühte Anpassungen wie Nanohancements oder Sense-Rekorder verwendet werden müssen, die sprachlich holprig und neben der Spur wirken. Dadurch verliert die Übersetzung zwangsläufig an Eleganz. Westins Geschichten bestechen durch ihre Verschmelzung von Form und Inhalt, was eine Übersetzung nie in ganzer Form wiedergeben kann.
Wer O. Westins Twitteraccount noch nicht folgt, der sollte dies zwingend tun. Wer den mikrotext Verlag noch nicht auf dem Schirm hat, der sollte dies zwingend nachholen, ist der Verlag auch stets bemüht deutschsprachige Science Fiction (nebst viel anderer spannender Literatur) voranzutreiben, wie etwa zuletzt mit den Erzählungen von Sina Kamala Kauffmann.
Westins Geschichten sind bemerkenswert und können jeder Autor*in als Paradebeispiele für Storytelling und den Aufbau von Welten mit möglichst wenigen Worten dienen. Wer des Englischen mächtig ist, sollte unbedingt zum Original greifen. Alleine der Form halber scheinen O. Westins Geschichten noch etwas bezaubernder und glanzvoller. Lesenswert sind die Geschichten in jeder Form.
O. Westin: Micro Science Fiction.
Übertragen von Birthe Mühlhoff.
192 Seiten.
hier rezensiert als e-book.
mikrotext.
Webseite zum Buch Mehr über die Bücher bei mikrotext:
Der Berliner Verlag mikrotext verfolgt das Motto digital first. Ausgewählte Bücher sind aber auch in gedruckter Form verfügbar. Seit 2013 entstehen so 'Texte mit Haltung und neuen Narrativen', meist geschieht dies in literarischer Form. Darüber hinaus verfolgt Verlegerin Nikola Richter mit dem Freundeskreis des Verlages ein spannendes Abo-Projekt. Für einen monatlichen Beitrag erhalten Mitglieder des Freundeskreises alle Neuerscheinungen von mikrotext als e-book frei Haus.
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