Auf der Suche – Nennt mich Esteban von Lejla Kalamujić
Übersetzt aus dem Bosnischen von Marie-Luise Alpermann
Nick Lüthi
Ein Erzählband, der nur so tut, als ob er einer sein. Ein fragmentarischer Roman der sagt, er sei keiner. Und die schwierige Suche nach der eigenen Identität, behindert durch Erinnerungen an die Mutter und einen Bürgerkrieg.
Das Leben der Ich-Erzählerin ist schnell abgesteckt, es gibt vier Grosseltern, einen trinkenden Vater und eine zu früh gestorbene Mutter, die als grosse Abwesende die Erinnerungen aller durchzieht. Es ist Krieg. Und es ist dieser Krieg, der den Lebenshorizont der Erzählerin engmaschig absteckt und auch die wenigen Momente der Selbstbestimmung, wie die Suche nach Liebe oder Identität in einen dunklen Schleier hüllt. Die Erinnerung ist die einzige Konstante, die den Krieg erträglich macht, wobei auch sie in den anfangs erwähnten, engen Grenzen bestehen muss.
Nennt mich Esteban behauptet von sich selbst, ein Erzählband zu sein. Ich komme aber nicht umhin, dies als glatte Lüge abzutun. Bereits der Klappentext erklärt, der Band lese sich “wie ein fragmentarischer Roman”. Ich würde da aber noch weiter gehen und behaupten, er liest sich nicht nur so, sondern muss auch so gelesen werden, wenn er sich selbst und seinen Stoffen gerecht werden soll. Die Bezeichnung als Erzählband kann man höchstens als Verweis darauf abtun, dass die Gesamtkomposition weniger berücksichtigt worden ist als dies bei einem Roman der Fall wäre. Geschenkt. Durch alle “Erzählungen” hindurch, bleibt die Figurenkonstellation konstant, die Zeiten und die Welt leben beständig fort. Und erst in ihrer Gesamtheit, also über die Kapitel hinweg, beginnen die Erzählungen zu glänzen und zu funktionieren, denn darin entwickelt sich ihre herausragende Eigenschaft: die atmosphärische Dichte. Und die bleibt bestehen, ob man dem nun fragmentarischer Roman oder Erzählband mit geschlossenen Figuren und geschlossener Welt sagen möchte.
Als Konstanten dieser atmosphärischen Dichte erweisen sich die Mutter und der Krieg, die beide gleichsam leblos sind, im Band aber die Rolle von Figuren einnehmen. Der Mutter ist dabei vereinende Kraft beschieden, dem Krieg auseinandertreibende. Die Erinnerung an die Mutter befällt die Grosseltern und den Vater, genauso wie die Erzählerin und bindet sie aneinander, täuscht manchmal aber auch Nähe vor, wo vielleicht längst keine mehr besteht. Der Krieg wird die Fünf dann auch weiter auseinandertreiben und ihre Bindungen auch physisch unterbrechen. Dieser Unterbruch wird aber zur Befreiung werden, zur grossen Möglichkeit für die Protagonistin, die noch immer, auch Jahre nach dem Tod der Mutter, eine eigene Identität finden muss, die losgelöst von ihrer Mutter ist.
Marie-Luise Alpermann hat den Text aus dem Bosnischen in ein knappes, poetisches Deutsch übertragen. Die Sätze sind kurz, immer direkt auf ihr Objekt ausgerichtet, wandern nur selten in Nebensätze aus. Dafür ist die Sprache umso poetischer. Sätze wie
tauchen immer wieder auf und machen die Ereignisse und die Welt des Krieges ertragbar. Es ist grosses Verdienst von Alpermann, für diese poetische Sprache so direkte und sprachlich verführerische Entsprechungen zu finden.
Lejla Kalamujić hat mit Nennt mich Esteban einen atmosphärisch dichten Roman geschrieben, der viele grosse Themen in kleinen Abschnitten anschneidet und in einem losen Narrativ zusammenhängt. Man wird bei der Lektüre an all die Literaturepochen erinnert werden, die das Fragment als besonders erstrebenswerte Form bezeichnet haben und schmunzeln müssen. Denn das hat schon was.
Lejla Kalamujić: Nennt mich Esteban.
Aus dem Bosnischen von Marie-Luise Alpermann.
Originalveröffentlichung 2015.
120 Seiten.
eta.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Karton) · fadengeheftet
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