Schiff oder Schornstein von Andrea Stift-Laube
Nick Lüthi
Der Hof der Grossmutter, Tiere, Schweine, Katzen, Hühner, Weinbergschnecken, die Gerüche, das einheitliche Leben von Mensch und Tier. Mit diesen idyllischen Szenen beginnt dieser Roman. Ich-Erzählerin Ila berichtet von ihrer Kindheit, ihrer Beziehung zur Schwester Franzi, den häufigen Besuchen des Gerichtsvollziehers, den Tieren auf dem Hof der Grossmutter, der dysfunktionalen Ehe der Eltern. Eingeschoben in ihre Erzählungen werden Berichte von Konstantin. Dieser wiederum erzählt von seinem Leben in einer Wohngemeinschaft auf einem Öko-Hof, in der auch Franzi lebt und seiner Beziehung zu ebendieser Franzi, die eigentlich nur noch Franziska genannt werden möchte.
Sowohl Ila als auch Konstantin schweifen zwar aus, bleiben im wesentlichen aber in ihren Erzählungen bei Erinnerungen an Franzi/Franziska hängen. Denn Franziska ist die grosse Leerstelle dieses Romans. Die Erzähler sind sich dessen auch bewusst, merkt Ila doch genau dies in einer Textpassage selbst an. Franziska begegnet uns nie selbst, sondern durchweg als Projektionsfläche von Ila und Konstantin. Franziska ist Umweltaktivistin, lebt vegan in einer umweltbewussten, annähernd autarken Hofgemeinschaft und arbeitet für eine grosse Umweltstiftung. Eines Tages bleibt sie aber einfach verschwunden. Ila und ihre Mutter pflegen zuerst noch zu scherzen, Franziska sei wohl gerade wieder irgendwo auf einem “Schiff oder Schornstein” anzutreffen und deshalb verschwunden. Dieses Verschwinden ist auch der Grund, weshalb Konstantin und Ila ihre Geschichten und Erinnerungen an Franziska erzählen. Im Kaleidoskop dieser Erinnerungen wird Franziska von der Projektionsfläche zum Geist, der über all diesen Erinnerungen schwebt.
Auf dem Klappentext des Buches ist ein Zitat von Clemens J. Setz gedruckt der dort proklamiert, Andrea Stift-Laube habe “das Herz”. Normalerweise sind ja solche Klappentexte höchstens für ein Schmunzeln gut und auch hier musste ich mir ein Lächeln unterdrücken. Das Überraschende ist aber, Setz hat recht. Wenn die Autorin eines hat, dann das Herz. Andrea Stift-Laube beweist in “Schiff oder Schornstein” eine Empathiefähigkeit sondergleichen. In konstanter Subjektivität lauschen wir den Erzählungen der beiden Erzähler*innen. Es geht hier nicht um die genauen Umstände, das was tatsächlich passiert ist, sondern um das, was die beiden erlebt haben, was sie mit Franziska verbindet. Und das Beste, Stift-Laube weiss diese Empathiefähigkeit geschickt mit einer poetischen Sprache zu verbinden, legt den Erzähler*innen subjektive Empfindungen in den Mund und überhöht die Erinnerung.
Der Roman kann aber nicht auf diesen Beziehungsaspekt und die Sprache reduziert werden. Denn das zweite grosse Thema ist dasjenige des Verhältnisses von Tier und Mensch. Das beginnt bereits bei den Kindheitserinnerungen von Ila, aber auch bei den Erinnerungen an die Familie von Konstantin. Dem Roman obliegt es nicht, auf diese Dinge eine Antwort zu geben, denn das ihm eigene grosse Rätsel bleibt die grosse Leerstelle, Franziska. Aber durch das bewusste Aufzeigen verschiedenster Situationen (grafische Schilderungen inklusive) des Zusammen- oder eben Nichtsozusammenlebens von Tier und Mensch, werden viele Fragen aufgeworfen, bleiben aber auch meist unbeantwortet.
Ich lese mittlerweile fast ausschliesslich Bücher aus unabhängigen Verlagen, darf also regelmässig die eine oder andere Entdeckung machen. Ins Staunen bin ich hier aber trotzdem gekommen. Da taucht dann plötzlich eine Autorin wie Andrea Stift-Laube auf, die wahnsinnig gut schreibt und es hinbekommt, ohne Kitsch und ohne Ökopolizei zu spielen, Umweltthemen in einen fesselnden Roman zu verpacken. Diese Autorin erlaubt es sich auch, gängigen Spannungskurven den Finger zu zeigen und einen Roman zu schreiben, der schon auf Seite 1 sagt, was am Ende passieren wird. So etwas kann nur gelingen, wenn man so gut schreibt, dass einem als Leser dieser Tatbestand entweder gar nicht auffällt, oder es dann einfach egal wird. Stift-Laube kann das. Und so ist für mich die grosse Entdeckung weniger der Roman selbst (der toll ist), als die Autorin und ihre Sprache.
Clemens J. Setz mag recht haben, Andrea Stift-Laube hat das Herz, aber sie auf das Herz zu reduzieren wird ihr nicht gerecht. Sie hat auch die Sprache und die Empathiefähigkeit um dieses Herz weit hinauszutragen und ihm Gehör zu verschaffen. Wer das nicht liest, hat selbst Schuld.
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