Wenn ein Philosoph in die Pedale tritt – Sokrates auf dem Rennrad von Guillaume Martin
Übersetzt aus dem Französischen von Christoph Sanders
Nick Lüthi
Heute beginnt die Tour de France. Um das wichtigste und bedeutendste Radrennen der Welt gebührend zu würdigen, widmen wir uns heute einem Buch, das einer geschrieben hat, der heute auch in die Pedale treten wird.
An den beiden Landesrundfahrten der Schweiz, der Tour de Suisse und der Tour de Romandie, nimmt jeweils ein Team der Schweizer Nationalmannschaft teil. Dieses besteht aus Fahrern, die nicht hauptsächlich auf der Strasse fahren und dementsprechend auch keinem Profiteam angehören.
Wer den Strassenradrennsport verfolgt, kennt es: Alle Teams tragen ihre Hauptsponsoren gleich im Namen. Die Teams heissen dann Lotto-Soudal, Alpecin Fenix oder Ineos Grenadiers. Zum Beginn einer neuen Saison herrscht dann allgemeine Verwirrung, weil alle zuerst die aufgrund von Sponsorenwechseln neuen Teamnamen lernen müssen (ich übertreibe). Guillaume Martins Fantasie Sokrates auf dem Rennrad hat da anderes vor: Der Weltverband UCI entscheidet, dass Radrennen wieder mit Nationalmannschaften gefahren werden. So kommt es, dass unter anderem die griechische Nationalmannschaft zur Tour aufgeboten wird. Neben Sokrates ist kaum jemand aus der Mannschaft bekannt, vielleicht noch seine wichtigsten Helfer Platon und Aristoteles. Den Griechen wird dementsprechend wenig zugetraut, die Aufregung ist trotz allem gross. Radfahrende Philosophen, oder Velosophen, wie sie sich auch nennen, das ist neu. Neu sind auch die Ansätze, mit der die griechische Mannschaft trainiert.
Eingeworfen in diese Fantasie sind kurze persönliche Mini-Essays von Martin. Er greift dabei auf, was ihm als Radprofi in den ersten Jahren seiner Karriere immer wieder widerfahren ist. Man war erstaunt darüber, dass ein Radrennfahrer einen Abschluss in Philosophie hat, die Homestory und die Berichte schrieben sich offensichtlich wie von selbst. Genervt und auch enttäuscht von dieser einseitigen Berichterstattung, hat Martin das Angebot eines französischen Verlages ein Buch zu schreiben angenommen. Und so ist dieses Buch, diese halbe Fantasie, halbe Erinnerungsschrift entstanden, in dem Martin die Geschichte so erzählt, wie er es möchte.
Martin fabuliert in den Erinnerungsstücken über die Vereinbarkeit eines Studiums und Spitzensport, über die Rollenbilder, die immer wieder von aussen an ihn herangetragen wurden. Über die Vorurteile, denen er sich entgegensetzen musste. Dem entgegen steht der Erzählstrang, in dem im ersten Teil die Vorbereitung auf die Tour de France und im zweiten dann die Tour de France 2017 Etappe für Etappe aus Sicht der Philosophen geschildert wird. Allerlei philosophisch fundierter Quatsch findet sich da. Nietzsche und Pascal streiten sich auf einer Gipfelfahrt. Kant mag nicht so recht in die Pedale treten, weil er nicht ins Schwitzen kommen will. Und der deutsche Teammanager Einstein lässt sein Team solange im Kraftraum Gewichte stemmen, dass die Deutschen danach in jedem Rennen durch ihr massives Übergewicht, nicht aber durch etwaige Siege auffallen (die Logik ist natürlich klar; mehr Masse = mehr Energie).
Übersetzt wurde der Band von Christoph Sanders, dem es hoch anzurechnen ist, all sie speziellen und eher ungewöhnlichen Radbegriffe im korrekten Jargon ins Deutsche zu übersetzen, ohne dabei aber das philosophische Vokabular des Bandes zu vergessen. Sokrates auf dem Rennrad ist vor allem eines: ein wunderbarer, unterhaltsamer Schalk. Die philosophischen Thesen und Aphorismen die der Autor seinen Figuren in den Mund legt, sind gründlich recherchiert, man merkt, dass Martin etwas von Philosophie versteht. Im Kontext des Radsports sind sie natürlich aber meist ausgesprochener Blödsinn. Sehr unterhaltsam zwar, aber halt doch Blödsinn. Ein Geniestreich, wie auf der Rückseite die NZZ zitiert wird, ist es garantiert nicht. Aber eine ideale Vorbereitung auf die schönste Zeit des Jahres für Radfreunde: Guillaume Martin wird heute zu seiner fünften Tour de France starten, als Leader der Cofidis-Mannschaft. Bisher hat er die Top 10 jedes Jahr knapp verpasst, wer weiss, vielleicht reicht es ja dieses Jahr, wenn er nicht nur fährt, sondern ab und an auch ein wenig an Flaubert oder Nietzsche denkt?
Guillaume Martin: Sokrates auf dem Rennrad. Eine Tour de France der Philosophen.
Aus dem Französischen von Christoph Sanders.
Übersetzt nach der zweiten überarbeiteten Fassung.
Originalveröffentlichung 2020.
224 Seiten.
Covadonga.
Webseite zum BuchZum Buch: Broschur · Klebebindung
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Der Covadonga Verlag ist ein Verlag für Radsportliteratur! Richtig gelesen, man muss sich nicht mehr mit den drei Tourwochen im Juli begnügen, sondern kann das ganze Jahr über Literarisches und Sachliches zu Radthemen in gedruckter Form zu sich nehmen.
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