Tagebücher in Gedichtform?
… sozusagen als Tagebuch von Liselotte Lüscher
Nick Lüthi
193 Gedichte sind in Liselotte Lüschers Band versammelt. Entstanden über 62 Jahre hinweg, dokumentieren sie den Werdegang ihrer Autorin. Zumindest in Ansätzen als Tagebuch.
Selten habe ich einen so aussergewöhnlichen Verlagstext gelesen, wie denjenigen der Liselotte Lüschers Gedichtband voransteht: «Liselotte Lüscher wählt einen bewusst ungekünstelten Zugang. Ihre Gedichte bestechen nicht durch formale Raffinesse […]. Als Lyrikerin will sie sich eigentlich nicht verstehen.» Keine Sorge, der Text enthält natürlich auch ein wenig Lobhudelei («Treffsicherheit der Bilder» etc. ist da etwa noch zu lesen), trotzdem ist es überraschend, streicht sich das Buch den künstlerischen Anspruch (zumindest den als Lyrik) gleich selbst, obwohl auf der nächsten Seite und dem Titel trotzdem die Zuordnung «Gedichte» steht.
Ob diesen Ausführungen kann man natürlich vermuten, dass der Tagebuchaspekt, der ja bereits im Titel aufgegriffen wird, eine zentrale Rolle im Band einnehmen wird und soll. Aber auch diese Vermutung vernichtet die Autorin in einem kurzen Vorwort zumindest teilweise gleich wieder: «Tagebuch habe ich nie geführt. Ich hätte mich dafür ernster nehmen müssen, als ich es konnte.» Ja was denn nun? Es sind ja trotzdem fast 200 Gedichte aus 6 Lebensjahrzehnten zusammengekommen.
Man muss dem Verlagstext recht geben, formaler Zwang ist den Gedichten nicht anzumerken, dafür sind sie zu kurz und zu frei in Form und Thematik. Davon abgesehen, ist formale Strenge normalerweise keine Kategorie, die oft an zeitgenössische Lyrik herangetragen wird (Ann Cottens oder Yevgeny Breygers Werke da einmal aussen vor gelassen) oder mit der ihre Qualität allenfalls bemessen wird. Im Einzelnen, das ist nicht wegzureden, sind Lüschers Gedichte oft banal und nahe am Kitsch (aber selten drüber), gerade dann, wenn sie in Natur- und Selbstbetrachtungen verfallen.
ich mag deine stimme ich mag sie
ich mag deine hände und
bin traurig und im regen
und allein was hat der regen
gegen mich was hat deine stimme
dass ich sie mag
nimm mich fort aus dem allem
aus den dingen
aus diesem herbst
Sie sind, das macht schon die Anordnung (meist 4 auf einer Doppelseite) klar, aber auch nicht zum Einzelkonsum gedacht, sondern auch als dokumentarisch-verarbeitende Werke eines Lebens. Nebst aller Tiefstapelei, die Gedichte haben fast alle einen sehr klaren, mitreissenden Rhythmus, der die Texte voranpeitscht und die Leser*in wie im Fluge durch diese Lebensentwicklung schreiten lässt. Dabei zeigt sich auch die grosse Stärke des Bandes; die Entwicklung im eigenen Fortschreiben. Die Motive und Themen wandeln sich durch die Lebensepochen und hinterlassen einen scharf gezeichneten Abdruck dessen, was ihre Verfasserin über die Jahre hin bewegt hat.
All die Tiefstapelei zu Beginn wäre gar nicht nötig gewesen. Als Leser*in schafft man es dann schon, die Texte entsprechend einzuordnen und sich mit ihnen fortzubewegen. Es scheint mir nur passend, der Autorin das letzte, ihren Gedichten vorangestellte, Wort zu überlassen. «Warum nun ein Buch? Sozusagen als letztes Aufbäumen gegen das Gehen-Müssen. Ich bin 85. […] Ich gehe. Muss gehen. […] Im Grunde genommen akzeptiere ich das nicht.»
Zum Buch: bedruckter Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (braun, gerillt) · Lesebändchen (blau) · fadengeheftet
Mehr über die Bücher der Edition 8:
Die 8 im Namen der Edition 8 steht nicht ohne Grund da. Der genossenschaftliche Verlag wird von einem 8-er Kollektiv geführt und veröffentlicht Sachbücher, wie Belletristik von Schweizer Autor*innen und Literatur aus Lateinamerika.
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