Der fremde eigene Alltag

Toronto von Marc Degens

Unaufgeregt und mit gelassenem Blick erzählen Marc Degens Aufzeichnungen von seinen Jahren in Kanada, von Twin Peaks, möblierten Wohnungen und Hotelzimmern. Von einem Alltag, der gänzlich fremd ist, aber eben doch den eigenen, banalen Alltag widerspiegelt.

Der fremde eigene Alltag

Meine anfängliche Skepsis gegenüber diesem Büchlein, dass ungefragt und überraschend in meinem Briefkasten aufgetaucht ist, war gross. Marc Degens war mir zwar als Verleger des Sukultur Verlages bekannt und durchaus sympathisch, aber ein Tagebuch? Gibt es davon nicht schon genug? Ist das nicht wieder, wie bei den meisten Schriftstellertagebüchern, selbstverliebtes Geschwurbel, umgeben von ein bisschen fragiler Männlichkeit und Allerweltsschwerz? Trotzdem bekam Toronto, wie alle anderen Bücher, die mir zu Händen kommen übrigens auch, eine Chance, um nicht einfach blinden Vorurteilen aufgesessen zu sein. Es blieb, man mag es schon vermutet haben, nicht bei diesen paar Seiten. In einem Rutsch habe ich es durchgelesen, dieses Büchlein. Gänzlich eingenommen von der sprühenden Wirklichkeit seiner Zeilen. Aber der Reihe nach …

Zusammen mit seiner Partnerin hat Degens die letzten vier Jahre in Toronto gelebt. Er hat dort nicht nur an Romanen weitergeschrieben und die Arbeit des von ihm mitbegründeten Verlages weitergeführt, er hat auch Tagebuch geführt. Diese Aufzeichnung folgen aber nicht dem, was man von einem Schriftstellertagebuch erwarten würde. Der Alltag wird nicht überhöht, mystifiziert oder fiktionalisiert. Er wird so dargestellt, wie er war. Konzerte, Ausflüge, Buchvernissagen, unbekannte Läden, Orte und Gerüche, Wohnungen, Hotelzimmer und ein Roadtrip (schlechte Restaurants inklusive). Genau das, was Degens in seinem Berliner Alltag wahrscheinlich genauso (Minus Kulturdifferenzen) erlebt hätte.

Es ist das grosse Verdienst des Autors, aus diesen Geschehnissen mehr zu machen, als blosse Alltagszusammenfassungen. Es ist zwar amüsant zu erfahren, dass Chester Brown wahrscheinlich an jedem verdammten Comic-Event in und um Toronto teilgenommen hat und teilnehmen wird, damit trägt sich aber noch kein Buch. Degens erzählt all das aber so geschickt, dass dadurch der ganz normale nordamerikanische Alltag zu einer wahren Symphonie verkommt. Die Erzählweise ist dermassen unaufgeregt und gelassen, man versinkt förmlich im Gleichfluss der Sätze. Ganz im Sinne der Gestaltpsychologie, werden bei Marc Degens aber die einzelnen, schlichten Sätze zu einem Mehr, zu einer grossen Poetisierung des Alltags.

Es ist ein fabelhaftes Vergnügen, diesem gut aufgelegten Erzähler zu lauschen und sich dabei von seinen Beobachtungen leiten zu lassen, um in diesem Alltag zu versinken, ja, ihn poetisch vorgelebt zu bekommen. Auch als Gesamtpaket präsentiert sich das Buch als überaus stimmig. In kleinem, schmucken Format und auf knappen 144 Seiten. Degens erreicht dabei, was auch viele Lesehefte des Sukultur Verlags auszeichnet, auf kleinem Raum wird etwas erschaffen, dass einem ans Herz wächst, an dem man gerne teil hat und dass man sich ins Regal stellen will, um es ab und an wieder anzublicken und kurz in Erinnerungen zu schwelgen. Und ja, meine Vorurteile haben sich als gänzlich unbegründet herausgestellt. Kein Allerweltsschmerz. Keine fragile Männlichkeit. Kein Geschwurbel. Einfach nur die unaufgeregte Erzählung eines Alltags, die in der Summe zu sehr viel mehr wird. Zu einer Symphonie des Alltäglichen.

Toronto von Marc Degens

Marc Degens: Toronto. Aufzeichnungen aus Kanada.

144 Seiten.

mairisch.

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Zum Buch: Broschur · Klebebindung

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