Über das Verschwinden der Utopie - Der Boden unter den Füßen von Christoph Keller
Nick Lüthi
Christoph Keller habe eine Utopie geschrieben, so die grossmundige Versprechung seines Verlags. Dabei muss man sich aber zwangsläufig die Frage stellen, ob denn eine Utopie gute Literatur sein kann, schliesslich ist doch die Utopie seit Jahrzehnten auf einem absteigenden Ast. Lohnt es sich also heute noch, eine Utopie zu schreiben?
In letzter Zeit ist sie wieder öfters zu hören, die Vermutung oder Beobachtung, dass in den aktuellen Verlagsvorschauen gehäuft Dystopien zu finden sind. Gefühlt scheint diese Vermutung zu stimmen. Auf diesem Blog habe ich alleine in diesem Jahr vier Dystopien besprochen (Lisa Spalt, Kristiane Kondrat (1), Kristiane Kondrat (2), Marie Darrieussecq) und auch in den Nominierungslisten der bedeutenden Literaturpreise finden sich gehäuft Vertreter dieser Gattung. Viel spannender als diese Beobachtung ist aber etwas anderes. Das Gegenstück, die Utopie, ist verschwunden!
Klar, streng genommen ist auch eine Dystopie eine Utopie, einfach in anderer Ausprägungsart, das ist aber Thema für einen anderen Artikel. Warum die Dystopie weit verbreitet ist, lässt sich relativ einfach erklären. Die Dystopie ist das einzige Romangenre, welches Science Fiction Elemente beinhalten kann und trotzdem erlaubt, “hohe” Literatur zu schreiben. Wenn aus der “Hochliteratur” (in Deutschland würde man das als E bezeichnen) kommende Autor*innen Science Fiction schreiben, dann immer Dystopien. Niemand schreibt eine Space Opera oder Afrofuturism. Zumindest in der deutschsprachigen Literatur.
Warum ist das wichtig? Phantastische Literatur (damit meine ich jetzt alle Spielarten dessen, was im Englischen unter dem Begriff Speculative Fiction verbunden wird) ermöglicht es, ein zu behandelndes Problem zu abstrahieren, in dem dieses beispielsweise in einem komplett erfundenen Setting besprochen wird. Auch der Fokus kann so ganz gezielt gelegt werden, indem wesentliche Teile einer Welt wegfallen, damit ein bestimmtes Problemfeld besprochen werden kann. Diese Vehikel wurden von Autor*innen immer wieder benutzt, um gezielt bestimmte Themen aufzugreifen, die in einem realitätsnahen Setting nicht besprochen werden können. So erklärt sich etwa auch die grosse Flut an Science Fiction Literatur aus der DDR-Zeit. Diktaturen bilden den idealen Nährboden für phantastisches Erzählen. Da nun aber die Dystopie die einzige zugelassene Spielart der “Hochliteratur” ist, die es Autor*innen erlaubt, bestimmte Inhalte aufzugreifen, und es in letzter Zeit doch vermehrt Dinge zu besprechen gibt, die ein anderes Setting oder einen klaren Fokus erfordern (Umweltthemen etc.), wird wieder vermehrt auf dieses Genre zurückgegriffen. Das erklärt das Verschwinden der Utopie aber noch nicht wirklich. Fakt ist aber, die Utopie verschwindet, die Dystopie floriert.
Das zeigt sich etwa auch im wundervollen Band Sehnsucht Utopie von Alberto Manguel. Manguel sammelt dort verschiedenste Utopien aus der Menschheitsgeschichte. Er beginnt dabei mit derjenigen, die gemeinhin als erste literarische Utopie gezählt wird, Utopia von Thomas Morus (Obwohl dies faktisch nicht stimmt, so ist etwa auch Platos Politeia eine Utopie.). Auf meist drei Seiten werden Utopien und Utopievorstellungen aus vier Jahrhunderten kurz besprochen. Die Utopien sind dabei streng hierarchisch geordnet und basieren meist auf einer literarischen Vorlage. Was aber nicht zwingend ist. Denn, und dies ist wiederum auffällig, bald nehmen die von Manguel vorgestellten Utopien eine andere Gestalt an, werden von zuerst fast ausschliesslich literarischen zu philosophischen und weltanschaulichen Utopien.
Unbewusst unterstreicht Manguel damit, dass die Utopie aus der Literatur immer mehr verschwunden ist. Das mag viele Gründe haben und der banalste ist wohl der ausschlaggebendste: In einer utopischen Welt, kann nicht wirklich viel passieren. Eine Geschichte in einer idealtypischen Welt wird zwangsläufig eher langweilig sein, fehlt doch die Motivation für einen Konflikt, der die Hauptfiguren antreiben soll. Das düstere Gegenstück der Utopie bietet ganz andere erzählerische Möglichkeiten und ist dementsprechend auch sehr viel weiter verbreitet.
Wir können uns jetzt also etwa vorstellen, weshalb die Utopie zusehends verschwindet. Literarisch macht die Dystopie mehr Spass. Es bleibt aber die Frage, kann denn eine Utopie gute, konfliktgeladene Literatur sein?
Im Limmat Verlag ist kürzlich der Roman Der Boden unter den Füßen erschienen, betitelt als Fantasie. Und siehe da, beworben wird der Roman unter anderem damit, dass Christoph Keller “nicht eine weitere Dystopie, sondern [… eine] Utopie” entworfen habe. Der Boden unter den Füßen ist also dazu angetreten, den Gegenbeweis zur Behauptung zu liefern, dass Utopien nur langweilige Entwürfe einer idealen Welt sind und es ihnen an Konflikten mangle.
Lion, der mit seinem Zwillingsbruder ein hoch angesehenes Architekturbüro betreibt, steckt in einer tiefen Krise. Eine von ihrem Büro entworfene und von ihm als Bauführer betreute Brücke ist eingestürzt. In der Mitte ist sie auseinandergebrochen und mehrere Autos sind in die Tiefe gestürzt. Lion plagen seit da verständlicherweise Gewissensbisse, er hat dem Brückenbauen abgeschworen, seine Firma hat er verlassen. Momentan ist er vorwiegend zu Hause und streift durch den Garten seines Hauses.
Der Boden unter den Füßen wackelt auf vielfältige Weise in Christoph Kellers Werk, durchzogen von zwei grossen Themen. Dies sind einerseits die Brücken und der sprichwörtliche und wortwörtliche Boden, der mit ihnen geschaffen wird. Andererseits ist es die Natur, die sich vor allem im Garten von Lion zeigt. In der Logik der Erzählung sind sich die Themen gegenübergestellt, die Brücken markieren die ultimative Eroberung und Machtergreifung des Menschen über die Natur. Egal wie die Natur beschaffen ist, die Menschen bauen Brücken, um die Natur zu umgehen oder um sie in die von ihnen erwünschte Form zu bringen. Die Gegenüberstellung ist auch in der Materialität der beiden Themen wiederzufinden. Die Brücken sind kalte, tote, künstliche Materie, während die Natur in Lions Garten wild, roh und voller Leben ist.
Der Garten bildet die eigentliche Utopie. Lion macht manchmal tagelange Spaziergänge im Garten, trifft auf wilde Tiere, schwimmt im Fluss, der durch den Garten geht und trifft die sich ständige wandelnde Natur jeden Tag neu an. Der Garten verändert Form, Grösse und Beschaffenheit ständig. Mal fliesst ein riesiger Strom durch den ganzen Garten, mal ist es nur ein kleines Bächlein, welches in die entgegengesetzte Richtung fliesst. Der Garten ist eine riesige Projektionsfläche, in der die Welt irgendwie in Ordnung ist.
Die utopischen Elemente der Geschichte beschreiben also tatsächlich einen Ort, an dem alles richtig läuft. Keller geht damit aber sehr geschickt um, nur weil im Garten alles in Ordnung ist, ist längst nicht alles in dieser Geschichte am angestammten Platz. Im Gegenteil. Keller nutzt den Garten als Konterpunkt zu seinem Protagonisten und erzeugt dadurch einen Konflikt. Auf Lion hat der Garten schmerzlindernde Wirkung, er lenkt ab und beschäftigt. Diese Ablenkung ist dringend nötig, in Lions Welt ist kaum mehr etwas dort, wo es hingehört. Wer, so scheint es, wie er die Welt nicht mehr versteht, der kann wenigstens das Paradies noch verstehen.
Der Garten ist aber nicht nur Gegensatz zum Protagonisten des Romans, sondern auch zu allem, was nicht Fantasie ist. Ganz im Sinne der Rousseaus’schen Philosophie, taucht auch hier die Natur als idealtypische, also utopische, Lösung für die moderne Welt auf. Dadurch gelingt es der Erzählung, auch einen zeitgenössischen Kommentar abzuliefern. Zurück zur Natur!
Der Boden unter den Füßen geht geschickt mit seinen utopischen Elementen um. Es geht hier eben nicht um eine Welt, in der alles Bestens ist. Die Welt, in der alles in Ordnung ist, ist nur eine Fantasie, versinnbildlicht durch einen Garten. Dadurch wird aber umso klarer, was in der eigentlichen Welt des Romans falsch läuft. Ein aus den Fugen geratenes Leben und ein Protagonist, der seinen neuen Platz darin sucht. Christoph Keller hat ihn angetreten, den Gegenbeweis zur Behauptung, dass Utopien keinen Raum für Konflikte bieten. Hier wird der zentrale Konflikt an der Utopie gespiegelt und kontrastiert. Keller zeigt damit, dass es sich durchaus lohnen kann, nicht nur Dystopien zu schreiben. Und auch, dass manchmal die utopische Variante furchterregender sein kann, als die dystopische.
Kann also eine Utopie gute, konfliktgeladene Literatur sein? Ja, das kann sie.
Alberto Manguel: Sehnsucht Utopie.
Aus dem Französischen von Amelie Thoma.
Veröffentlichung 2018.
104 Seiten.
Folio..
Webseite zum Buch Zum Buch:
bedruckter Einband (Halbleinen) · bedrucktes Vorsatzpapier (Karte) · Lesebändchen (rot) · fadengeheftet
Zum Verlag:
Der Folio Verlag hat seinen Sitz in Bozen und in Wien. Seit 1994 werden anspruchsvolle Bücher aus den Sparten Literatur, Sachbuch und Kunst verlegt, gerne auch mit einem regionalen Bezug zum Südtirol.
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bedruckter Schutzumschlag · farbiger Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (braun) · Klebebindung
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Seit 1975 erscheint im Limmat Verlag Sachliches, Literarisches, Lyrisches, Spannendes, Fotografisches und Übersetztes. Der Verlag hat sein Zuhause in Zürich.