Einäugige Doppelgänger – Unser Leben in den Wäldern von Marie Darrieussecq
Übersetzt aus dem Französischen von Frank Heibert
Nick Lüthi
Zurückgezogen in den Wäldern greift Viviane zu Papier und Stift und schreibt sie nieder, ihre Geschichte. In tagebuchartiger Manier erzählt die ehemalige Psychotherapeutin und immerhin eine “DER Generation”, wie es dazu kam, dass sie nun in den Wäldern lebt. Als Geflüchtete, die den Maschinen und der totalen Überwachung des Staates entkommen ist. Sie lebt dort, nebst anderen Aussenseitern, zusammen mit ihrer Hälfte Marie. In Vivianes Gesellschaft haben sich die Menschen, die es sich leisten können, eine Hälfte zugelegt. Ein Klon, der zur Organspende dient. Sollten Vivianes Lungen beispielsweise nicht mehr funktionieren, wird ihr Maries Lungenflügel versetzt werden, so die Idee. Dieser ursprüngliche Plan hat offensichtlich nicht geklappt, sonst würde Viviane ja jetzt nicht mit ihrer Hälfte, übrigens eine echte “Zimperliese”, im Wald hocken und ihre Geschichte(n) aufschreiben.
Marie Darrieussecqs Roman ist erhellend. Ganz gezielt werden hier die Sollbruchstellen einer Gesellschaft aufdeckt. Die geklonten Hälften sind unbeholfene Zeitgenossen, die ohne Hilfe weder stehen noch sprechen können, im Körper Erwachsene, im Kopf ungestüme Kinder. Das ist immer wieder auch witzig, zeigt aber, wie sich eine ursprünglich klare Idee zum wortwörtlichen Selbstläufer entwickeln kann, dessen Kontrolle schwierig bis unmöglich ist.
Viel nachhaltiger legt der Roman aber den Finger auf die offenen Wunden der Technologie. Die Roboter und Maschinen dieser Gesellschaft sind allesamt mächtig, koordinieren und regeln menschliches Leben. Job der Menschen ist es nur noch, die Sinnzusammenhänge für die Roboter zu schaffen, die diese noch nicht selbst herstellen können. Das sogenannte “Klicken” ist die einzige Art der Erwerbsarbeit, die Menschen noch ausüben. Die ganze Welt die der Roman erschafft, strahlt Intelligenz und Effizienz aus, die tonangebenden Roboter sind aber dumm. Redewendungen und Floskeln bringen sie durcheinander, Gefühle können sie nicht erfassen, Subtilitäten gehen ihnen völlig ab. Und auch Lügen können sie nicht, der Mensch aber, dumm, gutgläubig, betrottelt wie er ist, folgt den “intelligenten” Maschinen, führt lieber aus, als dass er hinterfragt. Der Autorin gelingt es, Technologie geschickt abzubilden und darzustellen, wo diese krankt. Künstliche Intelligenz hat eben eher wenig mit menschlicher zu tun. Das gilt sowohl für das Jahr 2019, als auch für die Zukunft und Welt dieses Romans. Selten habe ich einen Roman gelesen, dessen Autor*in ein so feines, so realistisches Gespür für Technologien und deren Beschränkungen hatte wie hier.
Es ist ein beklemmender Roman. Beklemmend, weil die gezeichnete Zukunft nicht allzu fern der unsrigen ist, aber auch, weil der Hauptfigur Viviane die kritische Betrachtung des eigenen Lebens fehlt. So ist sie zwar Revolutionärin und lebt zurückgezogen im Wald, erzählt uns aber im Plauderton, wie sie dies bei einer Runde Kaffee & Kuchen, bei der sie vom letzten Besuch der Nachbarn erzählt, auch machen würde. Getan hat sie immer nur das, was ihr als Handlung gerade vor die Füsse fiel und dadurch stellt sie auch einen Prototyp des modernen Menschen dar. Nichts selbst zu initiieren, aber wenn zehn andere schon “Gefällt mir” gedrückt haben auch noch auf den Button zu klicken, das geht.
Lobenswert ist nicht nur die Geschichte, sondern auch die Übersetzung. Franz Heiberts Übersetzung ist ausgezeichnet. Die Ich-Erzählerin Viviane schreibt immer wieder ganze Passagen über die Sprache und den Sprachgebrauch, weil das genaue Sprachverständnis eine klassische Fehlerquelle der Roboter ist. Nie kommen diese Passagen bei der Übersetzung gestelzt oder sprachlich holprig daher. Marie Darrieussecq arbeitet in ihrer präzisen Sprache immer wieder mit grammatikalischen Fehlstellungen und Eigenheiten des Französischen, um gewisse Dinge auszudrücken. Heibert gelingt es, diesen grammatikalischen Eigenheiten gerecht zu werden, ohne Sprachfluss und Verständlichkeit im Deutschen aufzugeben. So schildert der Übersetzer in einem lesenswerten Essay, wie beispielsweise aus dem ersten Satz im französischen Original “J’ai ouvert l’oeil et boum – tout m’est apparu.” das deutsche Pendant “Ich tat das Auge auf und peng, alles trat zutage.” wurde. Wer den Essay und das Buch gelesen hat, wird schnell merken, die Sorgfalt die dem ersten Satz zugutekam, ist auch allen anderen Sätzen widerfahren.
Wie alle Bücher des Secession Verlags ist auch “Unser Leben in den Wäldern” aufwendig und individuell gestaltet. Der bedruckte kartonierte Einband lässt dank Fadenheftung, Lesebändchen, bedrucktem Vorsatzpapier, bewusster Schriftwahl (Questa) und konsequenter Farbgebung der einzelnen Elemente (Leseband, Cover, Vorsatzpapier) keine gestalterischen Wünsche offen. Sowohl in der Ausgestaltung als auch als physisches Gut überzeugt dieses Buch.
Dieser Roman macht, was gute Science Fiction immer macht, er hält uns den Spiegel vor. Und wem dieser vorgehaltene Spiegel kein Schlag in die Fresse ist, dem ist er sicherlich einer in die Magengrube. Nebst dessen ist der Roman hervorragend übersetzt und als Buch toll ausgestaltet und umgesetzt. “Unser Leben in den Wäldern” hat mich auf ganzer Linie (Geschichte, Sprache, Übersetzung, Buchgestaltung) überzeugt. Das passiert selten.
Marie Darrieussecq: Unser Leben in den Wäldern.
Übertragen aus dem Französischen von Frank Heibert.
Originalveröffentlichung 2017.
110 Seiten.
Secession.
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