Man kann nicht alles Hören – Vom Rauschen und Rumoren der Welt von Belinda Cannone
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Tobias Scheffel
Nick Lüthi
Die Welt macht Lärm. Viel zu viel Lärm. Besonders für die empfindlichen Ohren von Jodel. In grossflächigen Sprachbildern malt Belinda Cannone diesen Lärm aus und versucht, daraus eine harmonische Verknüpfung zu basteln.
Die Welt erschliesst sich Jodel hauptsächlich durch sein Gehör. Er leidet an Hyperakusis und hört dadurch unglaublich gut und weit (wobei Hyperakusis eigentlich ein Krankheitsbild ist und grundsätzlich nichts mit einer aussergewöhnlichen Hörfähigkeit zu tun hat, dies aber nur am Rande). Durch diese ausgeprägte Hörfähigkeit ist er zu seinem Job als Toningenieur bei der Polizei gekommen. Tagsüber hört er sich Aufnahmen von Entführungen und Überfällen an, in der Hoffnung, akustisch Relevantes zu entdecken, das für die weitere Ermittlungsarbeit von Hilfe sein wird.
Sein gleichförmiges Leben ändert sich, als er die elfjährige Jeanne und deren Mutter kennenlernt. Jeanne hat die gleiche aussergewöhnliche Hörfähigkeit wie er. Da er selbst darunter sehr zu leiden hatte, versucht er, ihr zu helfen und die Geheimnisse des Hörens an sie weiterzugeben. Noch mehr Veränderung erfährt sein Leben, als urplötzlich ein Tibeter namens Ulan vor seiner Haustüre steht. Dieser bittet um Unterschlupf in der Garage, bis das Gewitter vorüber ist. Jodel bietet ihm aber kurzentschlossen einen Platz auf dem Sofa an. Jodel ahnt da noch nicht, dass die beiden bald Freunde sein werden und sich sein Leben drastisch verändern wird.
Und vielleicht muss man zuerst an diesen Veränderungen und Bekanntschaften ansetzen, um diesen Roman zu verstehen. Die Entwicklung von Jodel ist grundsätzlich wenig glaubwürdig. Er wird als leicht untersetzter Mann in seinen Fünfzigern gezeichnet, der sich mit seinem Leben längst abgefunden hat. Er hat seinen Beruf, ein paar Freundschaften, geht zu früh zu Bett und kocht zu viel Reis. Es gibt keinen Grund und auch keine äusserliche Entwicklung, die Jodel dazu drängen würde, mit Jeanne oder Ulan Freundschaft zu suchen und aktiv sein Leben umzugestalten. Die Figurenzeichnung von Jodel als festgefahrenem Aussenseiter und sein tatsächliches Verhalten stehen sich dementsprechend quer gegenüber.
Das ist ein Fauxpas, der eigentlich nicht passieren dürfte. Eine Hauptfigur, die sich grundlos ihrem Naturell entgegengesetzt verhält, lässt nicht auf eine geschickte Konstruktion hoffen. Hier ist dieser Gegensatz aber tatsächlich kaum problematisch, da es in Vom Rauschen und Rumoren der Welt nicht um Realitätsnähe und eine glaubwürdige Entwicklung der Figuren geht. Betrachtet man den Stoff als von leicht phantastischer Natur, erklärt dies sowohl Jodels und Jeannes Hörfähigkeiten (die stellenweise ins Übernatürliche abdriften) als auch viele Motive um Ulan, sowie die Plotentwicklung. Denn dieser Roman lebt eben nicht von seiner Figurenzeichnung oder seiner Naturtreue, sondern von seiner Sprache und von seiner Menschlichkeit.
Die Sprache ist voll, glänzend, ausholend, manchmal ausufernd. Die Töne, Geräusche und der Lärm der Welt werden beseelt und zu genauso sinnstiftenden Komponenten, wie die Figuren. Gerade übersetzerisch war das keine leichte Aufgabe, die Claudia Steinitz und Tobias Scheffel gut gelungen ist. Die langen Satzkonstruktionen, die komplexen Nebensatzkompositionen, sie wirken leicht und behalten einen klaren Lesefluss in ihrer übersetzten Form. Noch wichtigeres Merkmal als die Sprache ist aber die Menschlichkeit dieses Romanes. Die zentrale Botschaft ist natürlich wenig überraschend: Wir müssen alle genauer hinhören. Cannone gelingt es, eine menschliche, fesselnde Geschichte zu erzählen, die ohne Klischees auskommt und Facetten und Empfindungen hervorbringt, die vom modernen, taubgewordenem Menschen kaum mehr wahrgenommen werden. Jodel ist kein Mensch, der Hören will, er muss, weil er durch seine Erkrankung nicht anders kann. Weil er sich (entgegen seinem Naturell) dem aber Offen entgegenstellt, entdeckt er neues und im Besonderen neue Menschen und ihre Geschichten.
Es ist die sprühende Gesamtwirkung des Romanes, die sich nur schwer beziffern lässt. Belinda Cannone vollbringt den Spagat, eine Welt, zu erschaffen, genau zu schildern und mit liebenswerten und spannenden Figuren zu bevölkern, denen man gerne folgt, obwohl es doch erhebliche Logik- und Plotlücken im Roman zu verzeichnen gibt. Sie fängt damit das Rauschen der Welt so ein, dass es eben kein blosses weisses Rauschen ist, sondern ein feines, behagliches Rumoren. Alles hören kann man damit zwar auch nicht, aber doch einiges mehr, als sonst.
Belinda Cannone: Vom Rauschen und Rumoren der Welt.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Tobias Scheffel.
Originalveröffentlichung 2009.
258 Seiten.
Edition Converso.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Karton) · bedrucktes Vorsatzpapier (Grafik) · Lesebändchen (grün) · fadengeheftet
Mehr über die Bücher der Edition Converso:
Seit 2019 verlegt die von der Übersetzerin Monika Lustig gegründete Edition Converso Bücher aus dem Mittelmeerraum. Allesamt Übersetzungen, wie man sich schon denken konnte, allesamt gebunden und hochwertig produziert. Und allesamt unbekannte Stimmen, die da erstmals auf Deutsch erklingen können.
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