Von Dimensionsreisen und verlorenen Welten – Melek + Ich von Lina Ehrentraut & Auf einem Sonnenstrahl von Tillie Walden
Tillie Walden übersetzt aus dem Englischen von Barbara König
Nick Lüthi
Zwei ziemliche Kolosse liegen da auf meinem Schreibtisch. Beide Bücher sind Graphic Novels, beide erzählen Geschichten, die man weitschweifig der Science-Fiction zuordnen kann und beide beschäftigen sich mit queerer Liebe. Da hören aber auch die Gemeinsamkeiten auf, beide Autorinnen wählen in der Folge sehr eigene Zugänge zu ihren Themenwelten.
In Lina Ehrentrauts Debüt Melek + Ich wird die Geschichte der brillanten Forscherin Nici erzählt, die sich einen neuen Körper baut (Melek) und mit diesem in eine Parallelwelt reisen will. Entscheidungsgewiss wie Nici ist, geht alles schnell, der Körpertausch gelingt problemlos. Nachdem sie kurz zu Hause nach dem Rechten gesehen hat, wirft sie ihre zweite Maschine an und wechselt die Dimension.
Um sich zu vergewissern, dass der Dimensionswechsel auch geklappt hat, überlegt sich Melek, dass sie dies am einfachsten überprüfen kann, wenn sie sich selbst sucht. Dementsprechend frequentiert sie kurzerhand die gleiche Bar, die auch sonst Fixpunkt in Nicis Leben ist. Und siehe da, sie trifft dort tatsächlich Nici, also sich selbst. Schnell kommen die beiden ins Gespräch, diese Parallel-Nici ist anders, sie ist keine Wissenschaftlerin, arbeitet in der Bar und Melek fragt sich, weshalb. Nici beginnt zu flirten, warum auch nicht, Melek ist ausgezeichnet gelungen. Es folgt ein gemeinsames Lied in der Bar, der erste Kuss und plötzlich finden sich die beiden in einer Beziehung wieder.
Von diesem Punkt aus spinnt Lina Ehrentraut den Plot munter weiter und weiss noch mit einigen Überraschungen aufzufahren. Den Mix aus Science-Fiction Plot und Surrealismus nimmt man ihr dabei mühelos ab: Dimensionssprünge, Selbstliebe, der Aufstieg zu ungeahnten wissenschaftlichen Leistungen, alles überhaupt kein Problem in dieser Welt und in diesem Band. Ehrentraut erzählt mit einer Selbstverständlichkeit von den absurdesten Dingen. Durchzogen ist dieser Erzählstil von subtilem Humor, wenn sich etwa Melek nach dem gelungenem Dimensionssprung grossspurig als Genie bezeichnet und diese Erkenntnis mit der Aussage «[e]rstmal eine rauchen» abschliesst.
Die Zeichnungen wiederum sind krakelig, eher grobschlächtig (dem Stil eines Nando von Arb nicht unähnlich) und gerade das kursive Lettering nicht immer extrem leserlich. Der Grossteil der Geschichte wird in diesem schwarzweissen Stil erzählt, in Momenten besonderer Magie aber, etwa bei der Dimensionsreise oder dem ersten Kuss von Melek und Nici, werden die Zeichnungen durch grossflächige Malereien abgelöst. In Farbe und ohne Text werden diese besonderen Momente ausgezeichnet, was der Erzählung zu einer weiteren Dimension verhilft.
Besonders spannend ist, was für ein Kontrast sich damit zum kürzlich bei Reprodukt auf Deutsch erschienen Band von Tillie Walden auftut. Auf einem Sonnenstrahl ist eine mit sehr viel konventionelleren Mittel erzählte Geschichte, die linear und direkt fortschreitet und auch viel deutlicher mit dem Zeigefinger auf die im Band angesprochenen Themen zeigt (dazu aber später mehr). Als klassische Coming-of-Age Story erzählt Walden die Geschichte von Mia. Diese hat neu auf einem Raumschiff angeheuert, dessen Crew alte Bauwerke im Weltraum restauriert, die dann zu Büroräumlichkeiten oder Ähnlichem umgebaut werden. In Rückblenden wird dabei Mias Leben in einem Internat und ihre unglückliche Liebesgeschichte mit Grace, die das Internat nach kurzer Zeit wieder verlassen musste, geschildert. Am Ende vermischen sich die beiden Erzählstränge, wenn sich Mia und Crew auf den Weg machen, um Grace zu finden.
Zuerst als Webcomic erschienen, wurde der Band 2018 als Buch veröffentlicht. Das englische Original ist weiterhin als Webcomic verfügbar und kann hier in Gänze gelesen werden.
Wie man es von Tillie Walden kennt, sind die Zeichnungen mit feinem Strich geführt und mit entsättigten Farben koloriert. Gerade das konstante Weltraumsetting und der Sternenhimmel als Hintergrund geben den Bildern viel Tiefe und optische Wucht. Walden hat sich wahrlich ausgetobt, was Welten und Motive betrifft, so sehen die Raumschiffe aus wie riesige Koikarpfen, die zu restaurierenden Bauwerke schweben als Inseln durch den Weltraum und die Tierwelt besteht aus riesigen Füchsen. Dazu gesellt sich ein liebenswertes Figurenkabinett von fast ausschliesslich Frauen.
Anders als bei Lina Ehrentraut; ist das Lieben und Leben dieser Figuren aber nicht einfach selbstverständlich, es ist es zwar innerhalb der Crew, wird jedoch später in der Geschichte aufgebrochen und explizit thematisiert. So wird die non-binäre Figur Eliot von einem neuen Crewmitglied nicht mit dem gewünschten Pronomen angesprochen («they/them» im Original, «xier» in der Übersetzung), was zu einem längeren, moralisierenden Konflikt führt, der erklärt, warum solches Verhalten von der Crew nicht toleriert wird. Schade an dieser Stelle ist, dass sich Walden nicht mehr von der Geschichte, sondern von einem aktivistischen Vorhaben steuern lässt. Sie hat die Figuren vorher schon so genau beschrieben und geschildert, beim Zeitpunkt des Konflikts ist eigentlich längst klar, warum es zu diesem Konflikt kommt. Die explizite Verbalisierung wäre nicht nötig gewesen. Im Vergleich zu Ehrentraut gelingt es ihr also nicht, auf ein erzieherisches Programm zu verzichten und ihre Figuren unhinterfragt sein zu lassen, sondern es braucht dazu noch die erzieherische Botschaft. Die Autorin hätte sich problemlos auf ihre Figurenarbeit verlassen können, diese hat die Botschaft nämlich bereits längst und deutlich transportiert.
Übersetzt wurde Auf einem Sonnenstrahl von Barbara König. Auffallend an der Übersetzung ist, dass viele sprachliche Eigenheiten, viel Charakterarbeit, in der Übersetzung geglättet wurde. So sprechen auf Deutsch eigentlich alle Figuren gleich bis ähnlich, während die Sprache der jüngeren Figuren im englischen Original gegenüber den älteren klar abgegrenzt ist. So wird aus einem «You surviving?» etwa ein sehr viel banaleres «Alles gut bei dir?», oder die ständigen «like»-Einschübe der rebellischen Figur Jules («Like, she’s the highest ranked out of all of us.») werden komplett gestrichen. Auch ansonsten wurde die sehr präzise Jugendsprache in ein etwas altbackeneres, biederes Deutsch übertragen. Einschübe wie «Dude», «duh» oder «fucking» werden in der Übersetzung konsequent ignoriert. So wird viel Potential verspielt, ist doch gerade die Jugendsprache von Walden sehr detailliert und voll mit Witz (ein sprühendes «sucks to suck» wird zu einem langweiligen «selbst schuld»). Die Beschränkungen, die bei Comic-Übersetzungen entstehen, sind natürlich hauptsächlich dem klar festgelegten Platz geschuldet, trotzdem scheint es, dass die eine oder andere Variation auch in der deutschen Übersetzung hätte zugelassen werden können.
Sowohl Lina Ehrentraut, wie auch Tillie Walden, spielen in ihren Werken mit den Konventionen des Science-Fiction-Genres, beanspruchen aber auch neue Themenfelder und im Besonderen queere Liebe für dieses Genre. In Waldens Graphic Novel sticht die feine Figurenzeichnung und das wunderschöne Setting heraus, manchmal schwingt aber auch die Moralkeule mit, während Lina Ehrentrauts Werk durch die Selbstverständlichkeit, mit der es seine abstruse Geschichte erzählt, zu überzeugen weiss. Gute, zum Nachdenken anregende Science-Fiction lässt sich in beiden Bänden zuhauf finden.
Zum Buch:
bedruckter Einband (Karton) · bedruckter Vorsatz (Grafik) · durchgehend farbig · fadengeheftet
Zum Verlag:
Die 1981 entstandene Edition Moderne ist der einzige Comicverlag der Deutschschweiz. In Zürich werden jährlich etwa 12 Bücher produziert, viele davon sind Erstveröffentlichungen von jungen deutschsprachigen Zeichner*innen.
Tillie Walden: Auf einem Sonnenstrahl.
Aus dem Amerikanischen von Barbara König.
Lettering von Olav Korth.
Originalveröffentlichung 2018.
544 Seiten.
Reprodukt.
Website zum Buch Zum Buch:
Klappenbroschur · farbiger Vorsatz (Grafik) · durchgehend farbig · fadengeheftet
Zum Verlag:
Der Berliner Reprodukt Verlag ist seit seiner Entstehung 1991 auf Comics spezialisiert. Waren es zu Beginn hauptsächlich amerikanische Independent-Comics die verlegt wurden, sind seit 1994 und 2004 auch deutschsprachige und frankobelgische Zeichner\*innen fester Bestandteil des Programms.
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