Vor der Flut von Corinna T. Sievers
Nick Lüthi
Auf einer norddeutschen Insel, vor einem Haus, treibt ein Eisberg. Dieser Eisberg schimmert schön bläulich, kann aber jederzeit aufs Haus des Ehepaares, das in diesem Haus wohnt, zutreiben und Chaos anrichten. Judith, die Ich-Erzählerin dieses Romans, ist der eine Teil dieses Ehepaares. Sie ist eine der zwei Zahnärztinnen auf der Insel, hat aber kaum noch Kunden, die gehen lieber zu ihrem Kollegen. Judiths Ehemann Hovard ist Psychoanalytiker, sitzt Zuhause und analysiert hauptsächlich seine Frau. Die Ehe dieser beiden Menschen lieblos zu nennen, es wäre eine Untertreibung. Genau wie der Eisberg der vor ihrer Haustüre treibt, so kann es jederzeit in ihrem Eheleben zum Zusammenprall kommen.
Judith ist Nymphomanin und “vögelt” alles weg, was sich ihr an Möglichkeit bietet und auch Hovard, der ihr vor 25 Jahren eröffnet hat, in Zukunft keinen Sex mehr haben zu wollen, lässt keine Möglichkeit zur Analyse der eigenen Gattin aus. Die Beziehung der beiden ist durch einen seltsamen Tanz aus Distanz und Nähe gekennzeichnet. Der Alltag ist stark ritualisiert und durch unausgesprochene Regeln geleitet. Judith hat Floskeln, die baldigen Verkehr mit einem Mann aufzeigen, beiden ist klar, wann und wie sich geküsst wird, wo sich berührt. Nebst dieser ritualisierten Begegnung begegnen sich die beiden nur noch in Wortduellen. Hovard hat sich ein Spiel daraus gemacht, die Taten von Judith zu zerpflücken und durch seinen geliebten Freud entsprechend zu kategorisieren und kommentieren. Im Kern wird also durch Hovard die jahrhundertealte Tradition des männlichen Blicks auf die weibliche Sexualität beibehalten und zementiert.
Es gibt zwei Dinge, die mir beim Lesen dieses Romanes aufgefallen sind: Erstens, ja, das ist von einer Frau geschrieben, ja, es geht ums “vögeln”, ja, Provokation hat hier durchaus ihren Platz. Aber, man sollte sich von diesen Dingen nicht blenden lassen, genauso wie es in den Erzählungen Surab Leschawas nicht auf dieser Deutungsebene bleibt, ist es auch hier. Es geht nämlich nicht im hauptsächlichen um den Sex, die Ejakulate und Orgasmen, das sind alles nur die Dinge die passieren. Aber in diesen Dingen versteckt ist zweitens, die Geschichte einer Suchtkranken. Die Geschichte einer Frau, die nicht anders kann, als ihrer eigenen Obsession bis ins Allerletzte zu folgen. Einer Obsession, die vor nichts Halt macht, im wenigsten vor dem Mit- und dem Schamgefühl. Und diese Geschichte ist durchaus tragisch.
Judiths Zahnarztpraxis läuft nicht, die meisten Kunden ziehen ihren Kollegen auf der Insel vor, dies aus dem einfachen Grund, dass die meisten Männer, die Sex mit ihr hatten, ihr aus dem Weg gehen wollen oder aber, weil die Ehefrauen Wind von der Sache bekommen haben und die Familie zu einem anderen Zahnarzt schicken wollen. Sie hat manische Putzrituale die sie nach jedem Akt vollzieht. Wäscht sich und ihren Körper mit fast schon krankhafter Gründlichkeit. Sex findet immer ohne Kondom statt, die HIV-Prophylaxe nimmt sie bereits Zuhause zu sich und auch Gleitgel bringt sie bereits prä-koital an, um dem ungestümen Begehren der Männer zuvorzukommen. Kurzum, Eheleben, Arbeitsleben und auch das Sexualleben, sind mehr oder weniger kurz vor dem Kollaps.
In “Vor der Flut” schildert Corinna T. Sievers ein ausserordentliches Bedrohungsszenario. Man weiss ja bereits, dass die Flut kommen wird und auch der bläulich schimmernde Eisberg vor der Haustüre verheisst nichts Gutes. Spiegelt er doch genauso die Kälte der Eheleute wie auch die Bedrohung der kommenden Flut. Sievers arbeitet sehr geschickt mit ihren Motiven und findet immer das richtige Mittelmass, zwischen bewusster Einstreuung und sanfter Andeutung.
Erstaunlicherweise liest sich diese Geschichte wie ein Thriller. Gerade zum Schluss hin wollte ich das Buch eigentlich weglegen, weil a) abends spät und b) ich mir bereits ausmalen konnte wo die Reise hingeht, aber die Geschichte wirkt dermassen soghaft, ich konnte nicht aufhören. Wenn sich der Strudel dieser Geschichte und dieser Frau erst einmal öffnet, man kann kaum mehr entkommen, die Spannung, sie ebbt nicht ab.
Corinna T. Sievers: Vor der Flut.
224 Seiten.
Hier rezensiert als e-book.
Frankfurter Verlagsanstalt.
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