Wie ich Rocko S. vergewaltigt habe/ Comment j'ai violé Rocko S. von Marie Rotkopf
Nick Lüthi
Eine namenlose Ich-Erzählerin erinnert sich an ihre Jugend. Damals hatte sie gerade einen Roman verschlungen, von einem etwas älteren, männlichen Autoren, der in ähnlicher Gegend gelebt hatte, wie die Erzählerin selbst damals. Es ist der titelgebende Rocko S. Das Mysterium wer dieser Rocko S. sein könnte, wird dabei schnell aufgelöst, ist er doch erfolgreicher Musiker, Autor und in Hamburg ansässig, wo er einen Nachtclub betreibt. Fasziniert von Rocko S., schreibt ihm die Erzählerin einen Eintrag ins Gästebuch seiner Website, auf den er auch prompt reagiert. Da beginnt ein seltsamer Tanz zwischen den beiden, erste Treffen und gemeinsame Schreibziele folgen bald.
Nach dem Auslesen dieses dünnen, schön gestalteten Büchleins gingen mir viele Fragen durch den Kopf. Einige davon stellten sich schon vor der Lektüre, viele neue kamen beim Lesen dazu. Das beginnt schon bei der Gattungsbezeichnung, ganz selbstbewusst behauptet das Ding doch, ein Roman zu sein, bei kaum 70 Seiten Länge. Dann stellt sich die Frage nach dem Originaltext, hier abgedruckt sind eine deutsche und eine französische Fassung. Für beide Versionen ist es die Erstausgabe. Schlussendlich der Text selbst, voller Selbstreferenzialität, vermischt er Fakten und Fiktionales zu einem ausgeklügelten aber wilden Erzählstrang. Wie ich Rocko S. vergewaltigt habe ist wiedereinmal bestes Beispiel dafür, warum ich mich hier ausschliesslich mit Büchern aus unabhängigen Verlagen befasse. Da liest man etwas, das durchaus gefallen hat, hat danach aber keine Ahnung, wie man damit umgehen soll oder was genau man davon mitnehmen sollte. Darum folgt jetzt mein Versuch, etwas Licht in dieses Dunkel zu bringen und die drei obengenannten Punkte etwas genauer zu beleuchten.
Der Text erzählt auf der oberflächlichsten Ebene eine Geschichte zwischen Frau und Mann. Er bekannt, sie nicht, beide finden sich irgendwie anziehend, und dann passieren halt Dinge, die so passieren in solchen Konstellationen. Den Roman so zu lesen, ist aber langweilig und auch ziemlich blind. Eine Ebene tiefer wird nämlich einiges verhandelt. Das ist genauso eine Geschichte über das gespaltene Verhältnis des modernen Europa zu sich selbst als auch über das Verhältnis von Frau und Mann und die darin schwankenden Machtverhältnisse. Erzählt ist der Text aus der Perspektive einer unzuverlässigen Erzählerin, die sich nie davor scheut, keine Stellung zu beziehen. Was nun fiktiv oder real ist bleibt ungewiss. Damit werden kunstvoll diese beiden zentralen Spannungsverhältnisse wiederum bei der Leserin gespiegelt, schliesslich weiss diese ja nie, was real und fiktiv ist in dieser Schilderung, weiss somit auch nicht, wo es sich zu platzieren gilt innerhalb der Spannungsverhältnisse. Aufgegriffen wird diese Unzuverlässigkeit auch in der Gattungszuschreibung, ein Roman zeichnet sich ja gerade durch seine Länge aus, etwas, was dieser Text genau nicht besitzt.
Spannend ist auch, wie hier der Bezug von Original und Übersetzung gehandhabt wird. Abgedruckt ist zuerst der deutsche Text, danach der französische. Für beide ist es die Originalausgabe und im Klappentext ist vermerkt, dass der Text aus dem Französischen übertragen wurde. Von Marie Rotkopf. Und hier beginnen die Fragen: Ist eine Übersetzung von der Autorin selbst noch eine Übersetzung? Oder viel eher ein neues Original? Gerade wenn man bedenkt, dass die Texte gleichwertig und zeitgleich erschienen sind? Faszinierender als diese Fragen beantworten zu wollen ist es aber, sich zu fragen, warum diese Ausgabe jene Fragen überhaupt aufwirft! Man hätte die Werke ja auch einzeln veröffentlichen können, jemand anderes als die Autorin hätte den Text übersetzen können…
Wie ich Rocko S. vergewaltigt habe/ Comment j’ai violé Rocko S. stellt die Leserin vor viele Fragen, die meisten davon werden unbeantwortet bleiben. In genau diesem Mysterium erwächst aber ein spannendes Werk, das sich nicht verorten lassen will und gerade in seinen zentralen, geschickt unter der Oberfläche versteckten, Spannungsverhältnissen viele Denkanstösse liefert, die es zu verfolgen gilt.
Marie Rotkopf: Wie ich Rocko S. vergewaltigt habe/ Comment j'ai violé Rocko S.
Aus dem Französischen von Marie Rotkopf.
tadoma 5
144 Seiten.
ink press.
Webseite zum BuchZum Buch: Broschur · Klebebindung
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Seit 2015 veröffentlicht der in Zürich beheimatete Verlag ink press seine Bücher und hat zwei Steckenpferde: Kunstbücher und Literatur. Kunstbücher erscheinen individuell, gerade so wies passt. Aus der Literatur gibt es vier Veröffentlichungen pro Jahr. Einerseits in der BULGARISCHEN REIHE, andererseits in der Reihe TADOMA, in der internationale Literatur aus allen anderen Ländern veröffentlicht wird.
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