Den Rücken gekehrt, weg von der Grausamkeit
Wir verlassenen Kinder von Lucia Leidenfrost
Nick Lüthi
In ihrem Debüt errichtet Lucia Leidenfrost ein Paralleluniversum aus Angst, Macht, Abhängigkeit und Trostlosigkeit. Im Dorf sitzen die alleingelassenen Kinder, in der Stadt die abgewanderten Eltern. Aus dem anfänglichen Verlust entsteht Einsamkeit, entsteht Grausamkeit. Und ein packender Roman.
Die Erwachsenen verlassen nach und nach das Dorf. Zurück bleiben nur die Kinder. Siebzehn sind es. Oder Sechzehn. So genau zählt das niemand mehr. Zur Schule gehen sie schon lange nicht mehr, die Tage vertreiben sie sich vorerst mit Spielen und anderen kindlichen Zeitvertrieben. Warum die Erwachsenen gegangen sind? Man wird es nie erfahren. Sie schicken den Kindern Geld und Briefe, erklären darin, warum sie in die Stadt gegangen sind, reden vom Zurückkommen, vom Kinder-in-die-Stadt-nachholen. Die Kinder wissen längst, dass sie lügen, aber genauso wenig wie die Leser*innen, weshalb. Und so arrangieren sie sich mit der Situation auf ihre eigene, heftige Art.
Wir verlassenen Kinder wird von seinem zentralen Mysterium angetrieben. Die Erwachsenen sind gegangen oder im Gehen begriffen, das Warum wird im Roman nicht aufgelöst werden. Von diesem zentralen Mysterium aus entwickeln sich zwei Eigenheiten, die die Lektüre des Romanes ausmachen. An erster Stelle steh eine inhaltliche Eigenheit: die Welt. Lucia Leidenfrost lässt eine Welt erblühen, die kalt und blass wirkt und deren innere Zusammenhänge kaum dechiffrierbar sind. Das ganze Buch über strebt man als Leser*in nach Auflösung, nach kryptografischen Hinweisen, die zur Entschlüsselung beitragen, bis man irgendwann merken muss, es wird sie hier nicht geben, diese Auflösung.
Und ab da beginnt die zweite Eigenheit des Romanes zu wirken. Der offensichtlich phantastische, ja, in seiner Rauslösung aus Raum und Zeit märchenhafte, Stoff muss parabolisch wirken. Es stellt sich also die Frage, wie man diese Parabel verstehen muss und was uns damit gesagt werden soll? Leidenfrost erweist sich als geschickte Fährtenlegerin. Mal, oder fast immer, sind die Kinder grausam und mächtig, die Erwachsenen macht- und zahnlos und auch die Welt ist grausam zu allen, auch denen, die sich ihrer Regeln unterwerfen. Ein Roman lebt von seiner Uneindeutigkeit, von seiner Losgelöstheit realistischer Fassbarkeit. Die Autorin lenkt die Leser*innen durch dieses Fahrwasser, indem die Spuren immer wieder in die Eine oder die Andere Richtung deuten, ohne Preis zu geben, wo die Wahrheit zu finden ist. Denn, und das muss die Erkenntnis sein, es ist völlig egal, wo die Wahrheit zu finden ist. Es geht in diesem Universum schon lange nicht mehr um richtig oder falsch. Die Welt und ihre Struktur verkommen zu einem reinen Faktum, gegen das (scheinbar) nicht gekämpft werden kann.
Der Roman steht damit in einer langen Tradition phantastischer Literatur, die nicht die Zusammenhänge der Welt, sondern die ihrer Bewohner betrachten will, eine, die nicht nach dem Warum fragt, sondern nach dem Wer. Das ist keine leichte Kost, es ist oft grausam, die Unschuld im kollektiven Willen der Kinder verschwinden zu sehen, stellt uns aber vor zentrale Fragen. Wir verlassenen Kinder scheint zu Beginn nur von seinem Mysterium zu leben, wird aber schnell zu einer strudelhaften Erzählung in einer phantastischen Welt, die in grösseren Zusammenhängen gedacht wird. Wer den Magen dazu hat, kann hier nicht viel falsch machen.
Zum Buch: bedruckter Schutzumschlag · bedruckter Einband (Karton) · bedrucktes Vorsatzpapier (Illustration) · Lesebändchen (gelb) · Klebebindung
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