Der Flohzirkus im eigenen Briefkasten – Zirkus von Julia Cimafiejeva
Übersetzt aus dem Belarussischen von Thomas Weiler und Tina Wünschmann
Nick Lüthi
Reine Unterhaltung ist ihnen nicht genug, den Gedichten von Julia Cimafiejeva. Dazu sind sie zu sehr Artisten, die sich an Trapezen durchs Leben hangeln und den festen Boden weder wünschen noch suchen. Trotz aller freischwebenden Akrobatik fehlt aber der Tiefgang in diesen vibrierenden Sprachgebäuden nicht.
Roh und urgewaltig spülen die Vergleiche in Julia Cimafiejevas Gedichten an Land. 39 zeitbeständige Brocken haben so den Weg erstmals ans deutschsprachige Festland gefunden. Die meisten von ihnen wurden 2014 und 2016 in Gedichtbänden publiziert, sind hier aber von der Autorin neu zusammengetragen und mit unveröffentlichtem Material ergänzt worden. Die an Land gespülten Brocken verheissen zusammen mit dem Titel des Bandes leichtfüssiges Vergnügen. Wer sich nun im Zirkus währt und einem Abend voller Unterhaltung entgegenfiebert, wird aber lange warten müssen. Cimafiejevas Zirkus ist keiner der Unterhaltung, sondern einer der genauen Analyse und der Zungenfertigkeit. Kein Sammelbecken der Talentierten, ein Auffangbecken der Verstossenen. Denn bereits das erste Gedicht wanderzirkus überführt die vermeintlichen Show-Elemente in die Wirklichkeit:
mit diesem wanderzirkus in mir.
einem zirkus, denk mal an,
in einem polessischen dorf.
jongleure, akrobaten
bärtige jungfrauen ...
diese schande!
Zwar ist der titelgebende Zirkus fest im lyrischen Ich verkeilt, der angeborene Wanderzirkus wird aber lange bekämpft und erst, als alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, gelingt es dem Wanderzirkus, der hier als besagtes Auffangbecken fungiert, das Steuer zu übernehmen:
da fraßen sie mich.
da eröffneten sie
endlich in mir
ihren wanderzirkus.
Dadurch wird bereits zu Beginn klar, welche Art von Zirkus hier erwartet werden kann. Einer der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist aber keineswegs nur erbarmungslos, im Gegenteil, die Gedichte haben lebensschöpfende Qualität. Stimmen, Städte, Felder oder Gras werden belebt und erheben sich zu Figuren, die, ihrer plötzlichen Seele geschuldet, ins Leben drängen und vom lyrischen Ich verwundert bestaunt werden. Aber, genauso wie diese eigentlich unbeseelten Objekte belebt werden, genauso grausam ist der Umgang mit dem lyrischen Ich, dem die ganze Härte des irdischen Seins entgegenschlägt. Selbst die Steine erfahren Zuneigung, werden “ausgespült”, nur das Ich “spült die Zeit nie”.
In der Härte des Kontrastes zwischen dem Leblosen, das mit Leben gefüllt wird und dem Lebendigem, dem alle Akteurschaft abgesprochen wird, erstrahlen Julia Cimafiejevas Gedichte. Wenn Valzhyna Mort im Nachwort sagt, die Gedichte “bewegen sich wie Grenzlinien”, ist das keine rhetorische Übertreibung. Das Lebendige wird vom Leblosen seziert und nicht wieder zusammengesetzt. Das geht sogar so weit, dass zuletzt alles negiert wird und somit auch der Leser*in die Befähigung zum Lesen und dem lyrischen Ich die Sprache abgesprochen werden.
Dieser Zirkus ist keiner der fröhlich tanzenden Tiere, der schwerkraftüberwindenden Akrobaten. Es ist einer der leblos Beseelten und seelenlos Lebendigen. Dieser Zirkus will nicht unterhalten, er füttert der Realität das harte Brot, das ihr zusteht. Und gerade deshalb ist er so gut. Weil er keine Magie zur Hand hat und durch Fingerschnippen Feuer entfachen kann. Erst das harte, wiederholte Schlagen der Steine, lässt schlussendlich die Funken sprühen. Genau so, wie das Leben auch.
Julia Cimafiejeva: Zirkus.
Originalveröffentlichung 2014 & 2016.
Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler und Tina Wünschmann.
Mit einem Nachwort von Valzhyna Mort.
96 Seiten.
Edition Fototapeta.
Webseite zum BuchZum Buch: Klappbroschur · Klebebindung
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