«Zu sehr emancipirt» - Lydia Eschers Tragödie von Regina Dieterle
Nick Lüthi
Wer heute durch das Zürcher Kunstmuseum flaniert, der wird dort an einer Wand zwei Porträts vorfinden. Eines von Gottfried Keller und eines von Lydia Welti-Escher. Beide wurden gemalt von Karl Stauffer-Bern. Das diese beiden Porträts nebeneinander hängen mag zufällig anmuten, sie stammen ja vom gleichen Künstler, nach der Lektüre des vorliegenden Bandes wird dieser Umstand aber ziemlich sicher weit weniger zufällig erscheinen. Regina Dieterle arbeitet in “Zu sehr emancipirt” - Lydia Eschers Tragödie die Geschichte eines Liebespaares (Welti-Escher und Stauffer-Bern) auf. Sie tut dies aber weniger mit Fokus auf dem Liebespaar als mit einem rezeptionsgeschichtlichen Fokus.
Lydia Welti-Escher, Tochter des Eisenbahnerbauers Alfred Escher, war eine, ihrem immensen Reichtum angemessene, standesgemäss verheiratete Frau. Zum Unglück aller beteiligten Akteure hatten sich aber Welti-Escher und Karl Stauffer-Bern ineinander verliebt. Gemeinsam flüchtete das Liebespaar nach Italien, wo beide innerhalb kürzester Zeit verhaftet wurden und sich in Nervenheilanstalten wiederfanden. Karl Stauffer starb kurze Zeit nach diesen Ereignissen an einer Überdosis eines Medikaments und auch Lydia Escher richtete sich, kaum ein Jahr nach Stauffers Selbstmord, selbst.
Wenn also von der Tragödie Lydia Eschers die Rede ist, dann geht es um diese: Die steinreiche und verheiratete Frau brennt mit einem Künstler durch. Nicht einmal ein Jahr später sind beide tot. Regina Dieterle arbeitet sich aber nicht an dieser Tragödie ab, viel eher geht es um die Aufnahme der Geschichte in den deutschen Medien und bei den berühmten literarischen Zeitgenossen des Paares. Dieterle ist von Haus aus Germanistin und somit erklärt sich auch diese Erzählperspektive. Theodor Fontane und Gottfried Keller und die literarischen Kreise, in denen die beiden gewandelt sind, bilden dabei die Hauptakteure. Diese, auf den ersten Blick eigentümliche, Herangehensweise, entpuppt sich schnell als äusserst spannender Blickwinkel. Folgt man als Leser*in dadurch doch den interessierten Zeitgenossen und dem Augenmerk, welches sie an dieser Geschichte genommen haben.
In klarer Sprache und mit grosser Akribie zerlegt Dieterle diese Rezeptionsgeschichte in eine spannende Geschichtsstunde. Zusätzlich zum Essay von Dieterle sind in diesem Band noch drei Zeitungsartikel von Otto Brahm abgedruckt. Der erste ist ein Nachruf auf Karl Stauffer, der zweite thematisiert dann schon das Ende der Leben der beiden. Nach seinem Nachruf hat Escher Brahm kontaktiert und ihm zahlreiche Briefe ihrer Korrespondenz mit Stauffer hinterlassen. Der dritte Artikel widmet sich dann noch einmal vertieft diesen Briefen und erläutert der sehr interessierten Zeitgenossenschaft weitere Details zum “Drama Stauffer-Escher”.
Der Nimbus Verlag legt ein wunderschönes, detailliert ausgestaltetes Werk vor. Schweres Papier, farbiger Vor- und Nachsatz, Halbleinen, viele Abbildungen, man merkt dem Buch an, dass man in Wädenswil etwas vom Büchermachen versteht. Dieterles Essay ist erhellend und wird von den auch literarisch anspruchsvollen Artikeln von Brahm unterlegt. Dieterle zeigt mit diesem Essay, was die Literaturwissenschaft eigentlich auch kann. Spannende Sachverhalte und Einblicke in ein Leben aus neuen Gesichtspunkten zu beleuchten. Zum Beispiel, weshalb das Porträt von Gottfried Keller neben demjenigen von Lydia Welti-Escher hängt.
Regina Dieterle:«Zu sehr emancipirt» - Lydia Eschers Tragödie.
Originalveröffentlichung 2006.
2. erweiterte und aktualisierte Fassung.
Mit 41 Abbildungen.
Enthält 3 Zeitungsartikel von Otto Brahm, enstanden 1891̣─1892.
168 Seiten.
Nimbus.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Halbleinen) · farbiges Vorsatzpapier (grau) · Lesebändchen (grau) · fadengeheftet
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