Das Nadelöhr von Kristiane Kondrat
Nick Lüthi
Deutschland im Jahr 2225. 80 Jahre nach einer schweren Umweltkatastrophe. Das Land ist seit der Katastrophe in verschiedene Zonen aufgeteilt, nur noch Teile des Landes sind bewohnbar. Die sogenannte Zwischenzone ist durch hohe Mauern abgetrennt und darf nur zu Forschungszwecken betreten werden. Alfred ist einer dieser Forscher. Der Chemiker soll Bodenproben in der Zwischenzone entnehmen, denn komplett unbewohnt ist die Zone nicht. Bei den nach der Umweltkatastrophe eintretenden Unruhen hatte sich eine kleine Gruppe Autonomie erstritten und ein Teil der Zwischenzone wird seitdem von diesen Siedlern bewohnt. Das “Dorf” ist aber nicht nur Wohnort dieser ursprünglichen Siedler und deren Nachkommen, sondern seit jeher auch Auffangbecken für die Unerwünschten wie Lotte. Da Lotte als “zu schwächlich” für die technisierten Gebiete gilt, wird sie ausgesiedelt und findet in diesem Dorf eine neue Heimat. Dann gibt es auch noch vier mysteriöse graue Frauen, die sich in irgendeinem Krankenhaus mit unendlich langen Gängen wiederfinden.
Eine ziemlich packende Ausgangslage für einen Roman, der leider in der Folge die Erwartungen nicht erfüllt. Der Roman beginnt, in dem er auf den hier erst kürzlich besprochenen Roman Abstufung dreier Nuancen von Grau der Autorin Bezug nimmt (ob bewusst oder unbewusst). Genauso wie in der Abstufung beginnt der Roman in einem Krankenhaus, mit Frauen, die nicht so recht wissen, warum sie hier sind und was genau der Zweck ihres Aufenthaltes im Krankenhaus ist. In langsamen Erzähltempo wird der Krankenhausalltag der Frauen geschildert, gleichzeitig bleibt vieles unklar und umnebelt. Was in der Abstufung äusserst geschickt aufgespannt wird und in der erzählerischen Konstruktion Sinn ergibt, funktioniert hier nicht. Das Mysterium der vier grauen Frauen erzeugt zu wenig Spannung, um die Leser*in an der Strippe zu halten.
Das Problem dabei ist, dass der Spannungsbogen des Romans nicht aufgeht. Lange weiss man als Leser*in viel zu wenig, sobald man ein wenig Wissen angesammelt hat, wird der Plot plötzlich durchschaubar. Etwa ab Seite 70 nimmt der Roman ein wenig Fahrt auf und erst nach 200 Seiten kann man sich in der (gesamten) Welt des Romans halbwegs orientieren. Dieser Aufbau ist zuerst zu gemächlich und danach zu voraussehbar. Erschwerend kommt hinzu, dass der Roman handlungsgetrieben ist und das Innenleben der Hauptfiguren zu kurz kommt. Gerade Lotte und Alfred, die beiden grössten Handlungstreiber, handeln, tun und machen, ihrem Erleben und Fühlen kommen wir beim Lesen aber nicht wirklich näher.
Am meisten enttäuscht hat mich, dass der Roman so viel Potenzial hätte. Er spielt in einem wiedergeteilten Deutschland! Dieser Umstand wird kaum thematisiert und auch nicht genauer beleuchtet. Dabei ist die geschichtliche Analogie doch so klar angelegt. Mauern und Zäune benutzen Autor*innen gerade in der Science-Fiction gerne als Allegorien, die versinnbildlichen, was zwischen den Menschen steht. Dieses Sinnbild gibt die Möglichkeit, Differenzen hervorzuheben um eben auch zu zeigen, was für teilende Kraft gewisse Unterschiede haben können. Es gibt ein klares Wir und ein klares Anderes. Hier sind die Mauern einfach da und ihre sinnbildliche Kraft verstreicht ungenutzt. Bei einer äusserst wohlwollenden Lesart könnte man noch argumentieren, dass der Fokus klar auf das archaische Dorfleben (man denke sich ein Dorf im 18. Jahrhundert) gelegt wird und der Roman so quasi eine “Rückkehr zur Natur” thematisiert oder nahelegt. Die Dörfler respektive deren Nachkommen sind aber keine Idealisten, sie sind Aussteiger, stehen in keinem ideologischen Kampf. Sie sind Inbegriff friedlich-naiver Menschen, die sich bei drohendem Unheil ganz in sich kehren und in ihrer heilen Welt Verstecken spielen. Also greift auch hier die Allegorie nicht.
Ganz ehrlich, vielleicht ist diese ganze Rezension wahnsinnig unfair. Weil ich vor zwei Monaten einfach einen sauguten Roman von Kristiane Kondrat gelesen habe und jetzt die gleiche Erwartungshaltung an Das Nadelöhr herangetragen habe. Aber gerade darum ist es ja so schade um diesen Roman. Oftmals verweigern sich Autor*innen “klassischer” Literatur der Genreliteratur (wie etwa Science-Fiction oder Fantasy) oder erwehren sich vehement dieser Kategorisierung (siehe Ian McEwan als neuestes Beispiel unter vielen). Umso schöner ist es ja, wenn plötzlich Autor*innen vom Format Kristiane Kondrats beginnen, ganz selbstverständlich Science-Fiction Literatur zu produzieren. Es ist dann halt einfach schade, wenn, wie hier, so viel Potenzial verschenkt wird.
Zum Buch: Broschur · Klebebindung
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