Falsche Puppen – Kinderwhore von Maria Kjos Fonn
Übersetzt aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Nick Lüthi
Charlotte ist gut in Norwegisch und in Mathe und lebt bei ihrer Mutter. Vater hat sie keinen, also eigentlich schon, der wechselt einfach genauso häufig, wie ihre Mutter den Freund wechselt. Als Charlotte gerade zwölf geworden ist, findet wieder einer dieser Wechsel statt. Der neue Freund der Mutter, Jonas, fängt aber plötzlich an, die Nächte bei Charlotte zu verbringen. Verstehen oder gar Worte finden für die grausamen Taten von Jonas, kann Charlotte nicht. Sie begehrt auf, experimentiert mit Allem, was ihr in die Finger kommt, ob es nun Drogen, Alkohol und Zigaretten oder andere Körper sind. Charlotte will die eigene Taubheit bestärken. Ja nichts mehr fühlen müssen.
In ganz präziser Sprache, die sehr nahe an der Hauptfigur ist, schildert Maria Kjos Fonn diesen Missbrauch und die Folgen, die er für das weitere Leben von Charlotte haben wird. Charlotte will eigentlich nur eines, die ihr so brutal aus dem Leben herausgerissene Kontrolle wiedererlangen. Erzählt wird in Miniaturen, die mal sprunghaft und mal zähflüssig mit der Zeit umspringen.
Sprachlich ist dieser Kampf zurück in die Kontrolle ein reissender Strom. Dicht in der Schilderung des Gefühlslebens und schlicht in der Wortwahl. Vorgetragen in poetischer Sprache, die sich aber nicht wie ein Schleier über das Schreckliche legt. Im Gegenteil, nur in einer poetischen Sprache wie dieser können die grausamen Wahrheiten überhaupt noch ausgedrückt werden.
Motivisch zieht sich die Puppen/Doll-Metaphorik durch den ganzen Roman, was auch auf dem Cover bereits aufgegriffen wird. Charlottes Mutter trägt gerne ausladende und auffällige Kleider im sogenannten Kinderwhore-Stil, angelehnt vor allem an Courtney Love, und auch Charlotte eifert dieser Ästhetik nach. Puppen versteht Charlotte als leblose Dinger, die einfach ihre Aufgabe über sich ergehen lassen. Wenn im Text etwa Jaquelin Susann mit “Come on you little doll, do the job” zitiert wird, dann drückt das genau aus, wie sich Charlotte fühlt. Sie glaubt, anderen eine Fläche sein zu müssen. Ein Ding, das sie benutzen können und danach wegwerfen. Stell dich nicht so an. Mach deinen Teil. Die Puppen/Doll-Metaphorik zeichnet also einerseits auf tragische Weise das Gefühlsleben von Charlotte nach, andererseits dient es ihr auch als Schutzmechanismus. Eine Puppe fühlt nicht. Muss und kann gar nicht fühlen.
So grausam wie dieser Roman stellenweise ist, er ist nicht nur niederschmetternd. Erzählt wird nicht eine tragische Lebensgeschichte, sondern die Entwicklungsgeschichte eines Lebens. Der Roman handelt von jemandem, der alle Kontrolle verliert und diese für immer verloren glaubt, sich aber Stück für Stück zurück hangelt und die Kontrolle zurückgewinnt.
Die Übersetzung aus dem Norwegischen stammt von Gabriele Haefs, die mit diesem Band eine schwierige Gratwanderung gemeistert hat. Die Sprache hat einen klaren und poetischen Grundton, die Handlung ist aber stellenweise äusserst brutal. Die feine sprachliche Balance zwischen dem poetischen Grundton und der Handlung zu finden, ohne die Geschehnisse zu verklären oder den Grundton aufzubrechen, ist ein grosses Verdienst der Übersetzerin. Gerade in der Wortwahl zeigt sich dies immer wieder, der stellenweise grobschlächtige Wortschatz wirkt nicht deplatziert, weil die verwendeten Begriffe ganz gezielt ausgewählt wurden und sich sprachlich gut einfügen.
Ein genauso herausragendes, wie heftiges Buch. Die Motive sind dunkel, die Geschichte brutal, aber Kinderwhore ist keine Hoffnungslosigkeitsprosa. Es ist die Schilderung eines Kampfes, heraus aus dem unverschuldeten Kontrollverlust. Die Geschichte einer langen Entwicklung. Erzählt in einer berauschend dichten und zugleich schlichten Sprache.
Maria Kjos Fonn: Kinderwhore.
Aus dem Norwegischen (Bokmål) von Gabriele Haefs.
Originalveröffentlichung 2018.
256 Seiten.
Culturbooks.
Webseite zum BuchZum Buch: bedruckter Einband (Karton) · Lesebändchen (rot) · Klebebindung
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